Sinken!

Gleichgültig welche Form von fernöstlicher energetischer Körperarbeit man praktiziert, immer heißt es: sinken! Den Schwerpunkt nach unten verlagern, sich erden! Weshalb eigentlich? Wozu ist das gut? Und lässt sich etwas konkreter beschreiben, was genau damit gemeint ist?

Um der Frage auf den Grund zu gehen werfen wir einen Blick auf die energetische Anatomie unseres Körpers. Wir alle kennen die physische Anatomie, die sich an Knochen, Muskeln, Organen usf. orientiert. Die energetische Anatomie legt sich über diese, wie eine geographische sich über eine politische Landkarte legt: es gibt Strukturen, die sich treffen, andere laufen parallel, wieder andere beschreiben völlig unterschiedliche Formen und Verläufe. Für die physische Anatomie hat es in der Tradition der Chinesischen Medizin nie ein großes Interesse gegeben; ganz im Unterschied zur energetischen Anatomie, die über Jahrtausende erforscht und bis ins kleinste Detail beschrieben worden ist.

Die wichtigste energetische Achse im menschlichen Körper durchläuft den Rumpf längs vom tiefsten Punkt am Damm bis zum höchsten Punkt am Schädel. In der Sprache der Chinesischen Medizin stehen die beiden Endpunkte dieser Achse für Yin und Yang, für Erde und Himmel. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Qi auf mehreren Meridianen in auf- und absteigender Richtung. Unzählige Qigong-Übungen haben zum Ziel, auf- und absteigende Meridiane von Blockaden zu befreien, das Auf- und/oder Absteigen des Qi zu unterstützen und zu harmonisieren.  

Ein wichtiger Teil dieser vertikal ausgerichteten energetischen Strukturen ist die sogenannte Wasser-Feuer-Achse. „Wasser“ entspricht hier dem Funktionskreis Niere, der den unteren Bauchbereich beherrscht, während mit „Feuer“ der Funktionskreis Herz gemeint ist, sprich der Brustbereich.  Auf der Wasser-Feuer-Achse liegen auch zwei der drei energetischen Zentren unseres Körpers, welche in der chinesischen Tradition als „Zinnoberfelder“, chinesisch dantian 丹田, bezeichnet werden. Es sind Zentren, in welchen und um welche sich das Qi, die Energie, spontan sammelt und zentriert. Das untere Dantian befindet sich knapp unterhalb vom Nabel in der Mitte des Unterbauchs und hängt energetisch mit dem Funktionskreis Niere, also dem Wasser auf unserer Achse, zusammen. Das mittlere Dantian befindet sich hinter der Mitte des Brustbeins und hängt eng mit dem Funktionskreis Herz zusammen, also mit unserem Feuer. Das obere und dritte Dantian befindet sich oberhalb der Nasenwurzel zwischen den Augenbrauen, also außerhalb der Wasser-Feuer-Achse.  Diese energetischen Zentren spielen in allen fernöstlichen Körpertechniken eine grundlegende Rolle. Es sind Dreh- und Angelpunkte von denen aus oder zu denen hin jede Bewegung des Qi passiert. Wenn wir vom Sinken sprechen, so geht es im Prinzip darum, das Qi vom mittleren und oberen in das untere Dantian zu bringen.

Unten und oben, Erde und Himmel, Wasser und Feuer, Niere und Herz, Bauch und Brust, unteres und mittleres oder oberes Dantian: sie alle repräsentieren Yin und Yang. Der Unterleib mit seiner Empfindlichkeit gegenüber der Kälte, mit den unreinen Substanzen, die sich in ihm sammeln, mit seiner Tendenz verschlossen und „innen“ zu sein und alles nach unten abzuleiten, hat eine stärker yinnige Natur; der Brustkorb hingegen mit den beiden rhythmischen Pumpen Lunge und Herz, deren Wirkkraft nach außen und oben geht, mit dem Herz als Sitz des niemals ruhenden Geistes tendiert in Richtung Yang. Der Funktionskreis Niere sammelt und bewahrt (yin), der Funktionskreis Herz bewegt und verteilt (yang). Die Senkrechte und insbesondere die Wasser-Feuer-Achse verbinden so in unserem energetischen Körperbau diese beiden widerstrebenden Kräfte. Gesundheit ist nur dann möglich, wenn Yin und Yang harmonisch zusammenspielen, wenn sie sich also entlang der Wasser-Feuer-Achse gegenseitig besänftigen und unterstützen.

Dabei allerdings gibt es ein grundlegendes Problem: es ist – bildlich gesprochen – nicht leicht zu kochen, wenn sich der Topf mit Wasser unten und das Herdfeuer oben befinden. Wir Menschen haben da eine Art energetischen Konstruktionsfehler: da das Yin nach unten strebt und das Yang nach oben, entfernen sie sich voneinander, anstatt sich zu begegnen. Einmal abgesehen von der Logik der Bilder ist es eine Tatsache, dass Störungen der Wasser-Feuer-Achse oder ganz allgemein im Zusammenspiel von Yin und Yang sehr häufig sind. Eine solche Störungen führt zu einem Auseinanderstreben von Yin und Yang: das erste kühlt zu stark ab, sinkt zu sehr nach unten, wird zu schwach; dem zweiten hingegen fehlen Kühlung, Verankerung und Substanz, es wird hyperaktiv und entgleitet nach oben. Ein solches Ungleichgewicht kann sich zum Beispiel auf der physischen Ebene manifestieren, und zwar mit Verspannungen oben (Nacken, Schultern, oberer Rücken) und Schwäche unten (Lendenwirbelsäule, Knie, Beine im Allgemeinen).  Störungen der Wasser-Feuer-Achse spielen sehr oft auch in den psychischen und emotionalen Bereich hinein. Dann fehlt Kraft im Funktionskreis Niere, weshalb die Person ein Gefühl von Gefährdung oder ein ängstliches Grundgefühl hat; es fehlt der sichere Stand im Leben, das Grundvertrauen sozusagen. Zugleich hat der Funktionskreis Herz keine ausreichende Verankerung: der Geist kommt nur schwer zur Ruhe, es fehlt die nötige emotionale Distanz; häufig sind innere Unruhe, Schlafstörungen oder Gedankenflucht. Die Panikattacke ist ein sehr klares, wenn auch extremes Beispiel für ein Auseinanderdriften der Wasser-Feuer-Achse: bodenlose Angst und ein rasendes Herz.

Aber auch in weniger extremen Situationen ist es nicht schwer, ein Ungleichgewicht zwischen Wasser und Feuer, zwischen auf- und absteigenden Kräften in uns wahrzunehmen. Was sich dabei in den Vordergrund drängt, ist das unruhig gewordene „Oben“, während das schwache „Unten“ weniger leicht wahrgenommen wird. So können viele Menschen spüren, dass in besonders stressigen Momenten sich in Oberkörper und Kopf ein drängelndes Gefühl breitmacht, ein Wimmeln und Wuseln und Quellen, manchmal auch eine Art Schwindel, als wäre der Kopf ein Heißluftballon, der bis kurz vor dem Platzen gefüllt ist und schon an der Verankerung reißt. Gleichzeitig gibt es eine Art von innerer Beschleunigung, denn wenn das Yang sich vom Yin losmacht, steigt es nicht nur auf, sondern wird auch schneller. Die Konzentration und Effizienz, die das präpotente Yang anfänglich mit sich bringt, hat in der Arbeitswelt sicher auch Vorteile, allerdings nur so lange, bis das Ungleichgewicht die ersten negativen Auswirkungen auf die Gesundheit zeigt.

Unser Lebensstil trägt nicht wenig dazu bei, Wasser und Feuer weiter auseinanderzutreiben. Viele Menschen zentrieren sich praktisch rund um die Uhr im mittleren und oberen Dantian und vergessen ganz, auch das untere Dantian zu stärken. Wenn man denkt, spricht, liest, fernsieht oder tippt sind Oberkörper, Arme oder Kopf ständig aktiv, während die Beine leblos unter dem Schreibtisch oder über den Rand des Sofas hängen. Das ist, als würden sich in einem Haus im ersten Stock ständig Menschenmengen tummeln, während das Erdgeschoss völlig verwahrlost.

Was also tun, wenn es um das Gleichgewicht zwischen oben und unten schlecht steht? Für mich ist die beste Antwort ohne Zweifel das Qigong. Diese Körpertechnik ist wie keine zweite dazu imstande, Yin und Yang, Wasser und Feuer, auf- und absteigendes Qi miteinander zu harmonisieren. Es gibt dabei sehr viele Ansätze und unzählige Übungen. Einige davon werden wir in einem folgenden Artikel besprechen. Dabei gibt es nach meiner Erfahrung folgende drei Schwerpunkte :
– Die Bauchatmung: die Bauchatmung befreit das Zwerchfells als Tor zwischen oben und unten, nimmt Druck aus dem Brustkorb und flutet den Bauchraum mit Qi.
– Die Zentrierung: wenn sich der Geist, die Bewegung und das Qi auf das untere Dantian richten, so erleichtert dies die Sammlung; das untere Dantian sammelt, während das mittlere und obere Dantian stärker zerstreuen.
– Die Erdung: durch das Ableiten des Gewichts über die natürliche Schwerkraftlinie des Körper bis in den Boden werden Spannungen gelöst, auf- und absteigendes Qi kann fließen.

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