Nach einigen nicht ganz geglückten Experimenten als 17-Jährige war ich selbst dem Fasten gegenüber lange Zeit eher skeptisch. Nicht zuletzt, weil auch in der Chinesischen Medizin dem Fasten keine große Rolle zugemessen wird. Das (religiös begründete) Ideal der Reinheit, das sowohl in der christlichen als auch in der indischen Tradition so wichtig ist und oft durch das Fasten erreicht werden soll, spielt in der chinesischen Tradition eine sehr viel unwichtigere Rolle. Hier geht es darum, den Organismus in seiner Fähigkeit zur Selbstregulierung zu unterstützen. Auf der Suche nach dem natürlichen Gleichgewicht ist das gesunde Mittelmaß das Ziel, jedes Extrem – ob Völlerei oder Fasten – ist zu vermeiden. In den letzten Jahren ist mein innerer Widerstand gegen das Fasten allerdings immer weiter geschrumpft und heute bin ich der Meinung: wenn es gut gemacht wird, kann das Fasten sehr wertvoll sein. Allerdings ist das meiner Meinung nach sehr oft nicht der Fall.
In der Logik der TCM gehört das Fasten ganz klar zum Yin. Das kommt wohl auch daher, dass es in der Entwicklungsgeschichte der Menschen vor allem während der Yin-Phasen notwendig war, zu fasten, also vor allem nachts und während der kalten Jahreszeit. Diese Verbindung zum Yin erkennt man auch daran, dass der Organismus auf eine eingeschränkte oder ganz ausbleibende Zufuhr von Kalorien mit einem Herunterfahren des Yang und einer stärkeren Aktivierung des Yin reagiert. Darin liegt auch die wichtigste therapeutische Wirkung des Fastens, denn zusammen mit dem Yang wird auch pathologische Hitze vermindert. Fasten hat immer dann eine äußerst wertvolle Wirkung, wenn Hitze oder Feuer bestehen oder wenn andere Pathogene sich mit Hitze verbinden, zum Beispiel bei Feuchte-Hitze oder Schleim-Hitze.
Nach der TCM handelt es sich bei den Situationen, die von einer Fastenkur profitieren also immer um solche mit einem Überschuss an Yang (Hitze, Feuer) oder einer Fülle mit Yin- und Yang Pathogenen (Feuchte-Hitze, Schleim-Hitze). Sehr viel problematischer ist das Fasten bei einem Vorherrschen von Leere-Mustern (Mangel von Qi, Blut, Yin und Yang). Bei diesen Mustern ist meiner Erfahrung nach meist nicht mit einer Verbesserung zu rechnen und ich würde deshalb nur zu sehr vorsichtigen und sanften Fastenmethoden raten bzw. ganz darauf verzichten. Die einzige Ausnahme macht eventuell eine Leere-Hitze aufgrund eines Yin-Mangels. Hier kann eine sanfte Methode wie das im Folgenden beschrieben Nachtfasten hilfreich sein, um das Yin zu unterstützen, muss dann aber tagsüber mit einer Yin tonisierenden Ernährung kombiniert werden.
Bei welchen Erkrankungen im westlichen Sinn hat Fasten nach diesen Überlegungen also einen Sinn? Da sich die Störungsmuster der TCM und die Erkrankungen im Sinne der Biomedizin nur in den seltensten Fällen 1:1 entsprechen, ist es sehr schwer, darauf zu antworten. Die beste Lösung dieses Problems ist es, sich auf eine Befundung nach der TCM zu berufen. Eine der wenigen Situationen, in denen praktisch immer Hitze vorliegt, ist ein entzündlicher Prozess. Man kann also sagen, dass es bei chronischen Entzündungen (z.B. von Gelenken, Muskeln, Darm) immer einen Versuch wert ist, zu fasten. Bei Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten, Diabetes, Darmdysbiose, Migräne oder zur Verminderung des Krebsrisikos wird das Fasten in sehr vielen Fällen hilfreich sein, denn diese Erkrankungen gehen meist mit den genannten Mustern einher. Bei anderen Erkrankungen und zum Beispiel bei Übergewicht sollte von Fall zu Fall festgestellt werden, ob eine Form von Hitze vorliegt und so auch aus der Sicht der TCM zum Fasten geraten werden kann. Im schlimmsten Fall, wenn die grundlegende Ursache in einer Schwäche des Yang liegt, wird eine Fastenkur die Situation langfristig verschlechtern.
Es sind allerdings auch dann negative Folgen möglich, wenn die vorhandenen Störungsmuster die richtigen sind. Da das Fasten ins Yin gehört, ist es immer problematisch, während einer Yang-Phase zu fasten bzw. den Organismus während des Fastens zu sehr ins Yang zu zwingen. Das passiert zum Beispiel, wenn man während einer Fastenkur Sport betreibt, normal arbeitet oder sich anderweitig sehr anstrengt. Entscheidet man sich für eine mehrtägige Fastenkur (damit wird ein Zusammenfallen von Fasten und Yang-Phasen unvermeidbar), so ist es immer wichtig, jede große Anstrengung zu vermeiden und sich so gut wie möglich zu entlasten. Fallen Fasten und Yang zusammen, so kommt der Organismus in einen Konflikt und wird mit einer der folgenden Reaktionen darauf antworten:
– Er wird bei dem Mangel an nachgeburtlichen Ressourcen auf die vorgeburtlichen Ressourcen zurückgreifen. In den TCM spricht man davon, dass Yin, Yang und die Essenz des Funktionskreises Niere angezapft werden, aus der Sicht der Biomedizin bedeutet es vor allem die Ausschüttung von Stresshormonen. Von diesen Reserven zu zehren ist nach den Beobachtungen der TCM langfristig immer problematisch, denn sie können nur sehr schwer (Yin und Yang der Niere) oder gar nicht (vorgeburtliche Essenz) wieder aufgebaut werden. Letzten Endes verringern wir durch das Zurückgreifen auf die Reserven in der Niere (also durch anhaltenden Stress) unsere Vitalität und beschleunigen den Alterungsprozess.
– Je nach Konstitution und innerem Gleichgewicht wird der Organismus, wenn er während der Yang-Phasen durch das Fasten gebremst wird, sein Yang auch nachhaltig drosseln. Man merkt dies daran, dass der Körper nach einer Fastenkur mit weniger Kalorien auskommt, man bei gleicher Ernährung also zunimmt. Dagegen hilft es, das Yang zu aktivieren und dies gelingt am besten durch körperliche Bewegung oder eine das Yang tonisierende Ernährung. Fastet man nur nachts, so haben diese Maßnahmen in der ersten Tageshälfte Platz, fastet man über mehrere Tage, so sollte man vor und/oder nach der Fastenkur darangehen, nicht aber währenddessen.
Die sanfteste und den Organismus am besten unterstützende Methode des Fastens ist in diesem Sinne das Nachtfasten. Morgens und mittags wird ausreichend gegessen und für körperliche Bewegung gesorgt, um das Yang zu aktivieren, das Abendessen wird weggelassen, damit der Körper in der Nacht tief ins Yin gehen und sich regenerieren kann. Diese Form des intermittierenden Fastens eignet sich auch als alltägliche Ernährungsform, sie bringt viele Vorteile für die Gesundheit und erspart dem Organismus den Stress einer strengen Fastenkur. Andere Formen intermittierenden Fastens, bei denen tagsüber nichts gegessen und dann bei einem überreichlichen Abendessen gevöllert wird, sind dagegen völlig abwegig. Sie zwingen den Organismus in der Yang-Phase in einen anhaltenden Zustand von extremem Stress und halten ihn während der Nachtstunden durch das Verdauen und die darauf folgende Ausschüttung von Insulin davon ab, tief genug ins Yin zu sinken, um sich zu regenerieren.
Das nämlich ist das dritte Problem dabei, wenn Fasten und Yang zusammentreffen: alle gesundheitlichen Vorteile des Fastens haben mit einem Abklingen des Yang und einer Vertiefung des Yin zu tun. Wir wollen ja, dass die Zellen ihre Putz- und Reparatur-Truppen losschicken, das machen sie aber nicht bei Stress, sondern nur während einem ausreichend tiefen Yin-Zustand. Wenn wir während einer Yang-Phase fasten oder uns während des Fastens ins Yang zwingen, so werden all diese therapeutischen Erfolge sehr stark verringert. Es ist, als wolle man sich durch einen tiefen Schlaf erholen, richte dann aber einen Scheinwerfer auf das Bett, drehe die Stereoanlage voll auf und stelle alle 30 Minuten einen Wecker. Die gesundheitlichen Erfolge des Fastens werden um vieles stärker ausfallen, wenn wir den Organismus beim Abtauchen in das Yin unterstützen: also natürlich kein Kaffee, kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Stress, kein Sport, keine Aufregung; dafür ausreichend Schlaf, Kontemplation und vor allem… Langeweile!