Im Klassiker des Gelben Kaisers, dem Huangdi Neijing 黄帝内经 , mit über zwei Jahrtausenden das älteste und wohl bekannteste Werk der chinesischen Medizin, spielen die richtigen Lebensgewohnheiten eine zentrale Rolle für die Erhaltung der Gesundheit. Ein gesundes Leben folgt den Rhythmen der Natur, also allen voran auch den Jahreszeiten. Darüber, wie man im Sommer leben sollte, gibt das Huangdi Neijing uns folgende Auskünfte: man sollte später schlafen gehen und früh aufstehen; man soll keinen Groll oder Ärger aufkommen lassen, sondern fröhlich und heiter sein, damit das Qi frei fließen kann; man soll sich regelmäßig körperlich betätigen, um die Poren der Haut geöffnet zu halten und ausreichend zu schwitzen.
Um diese Ratschläge zu verstehen, versuchen wir zunächst einmal nachzuvollziehen, was im Sommer auf energetischer Ebene in unserem Organismus vor sich geht. Der Sommer steht unter den Jahreszeiten für das maximale Yang und auch unser inneres Gleichgewicht spiegelt dies wieder: Wärme und Dynamik, Aktivität und Ausbreitung nehmen zu. Konkret bedeutet dies zunächst einmal, dass das Qi, die Körperenergie, stärker zirkuliert und vor allem vermehrt in die Peripherie und an die Oberfläche des Körpers gelang. Aus westlicher Sicht bedeutet dies eine stärkere Durchblutung der peripheren Gefäße und der Haut, denn das Blut folgt dem Qi dorthin. Diese stärkere Zirkulation des Qi ist nicht nur eine unmittelbare Reaktion des Körpers auf die Wärme draußen, sondern auch ein Schutz dagegen. Wenn das Qi stärker unter die Haut gelangt, so öffnen sich die Poren und wir können schwitzen, sprich überschüssige Wärme abgeben.
Aus der stärkeren Zirkulation von Qi und Blut wird auch die Zuordnung des Sommers zum Funktionskreis Herz verständlich. Der Funktionskreis Herz – und dazu gehört das gesamte System der Blutgefäße – steht in der Chinesischen Medizin für das Verteilen. Durch die Kraft des Herzens gelangt das Blut in jeden Teil des Körpers. Da das Verteilen im Sommer leichter fällt, wird das Herz in dieser Jahreszeit auf natürliche Weise unterstützt und gestärkt. Man sagt in der TCM: die Wärme geht zum Herzen, moderate Wärme stärkt es, übermäßige Hitze aber schadet dem Herzen. Auch dies können wir konkret nachvollziehen: an extrem heißen Tagen (manche Leser werden wie auch ich verreisen müssen, um diese zu erleben) und vor allem dann, wenn hohe Luftfeuchtigkeit das Schwitzen schwer macht, wird die Pumpleistung des Herzens sehr stark beansprucht, man fühlt sich schlapp und müde, vielleicht auch etwas dusselig im Kopf. Die belebende, kräftigende Wirkung der Wärme kann bei einem Übermaß also durchaus auch ins Negative umschlagen, besonders dann, wenn der Funktionskreis Herz bereits geschwächt ist oder sich überschüssige Hitze im Organismus angesammelt hat.
Die Emotion, die im System der Fünf Wandlungsphasen dem Sommer, dem Herzen und der Wärme zugeordnet wird, ist die Freude. Wenn wir uns freuen, so öffnen wir uns, breiten die Arme aus, strahlen und lachen. Mit der Freude hängt auch das Sprechen zusammen und ganz allgemein die Lust, zu kommunizieren. All diese Dinge geschehen nach der Theorie der TCM im Sommer mit größerer Leichtigkeit. Es ist sozusagen die natürliche Reaktion auf den Sommer und die Wärme, mehr Freude zu empfinden und die Energie auf der Ebene der Emotionen mehr nach außen zu schicken, sie frei fließen zu lassen in einer harmonischen Kommunikation zwischen innen und außen. Um diese freie Entfaltung des Qi nicht zu stören, so der Huangdi Neijing, sollten wir vor allem ärgerlichen, das Qi aufstauenden Emotionen im Sommer keinen Raum geben. Feiern statt bocken, klingt gut.
All diese Reaktionen des Organismus auf die sommerliche Wärme sind natürlich und wohltuend für eine harmonische Entwicklung des inneren energetischen Gleichgewichts im Laufe des Jahres. Setzt man sich der Wärme nicht genügend aus, so riskiert man die Entstehung von Ungleichgewichten: der Funktionskreis Herz, die Freude, das Verteilen werden nicht ausreichend unterstützt. Gleichzeitig bleibt durch das vergleichsweise geringe Schwitzen zu viel Feuchtigkeit im Körper, die während der folgenden Jahreszeiten zu Erkrankungen führen kann. Wenn der Organismus im Sommer nicht richtig Gas geben darf, so kann er außerdem im Herbst und Winter das Yang nicht so wirksam zurücknehmen, er kommt sozusagen langfristig aus dem Takt. Wir können uns das so vorstellen, wie wenn wir nach einem träge dahingelebten Tag schlecht schlafen: kann sich das Yang nicht entfalten, so stört dies in der Folge auch die Rückkehr des Yang und die Entfaltung des Yin.
Es ist also sehr wichtig für die Gesundheit, sich der sommerlichen Wärme auszusetzen, sie an sich herankommen zu lassen, sie aufzunehmen bis auch die Knochen so richtig schön warm werden. Ist die Hitze zu stark und wird zur Belastung, so sollte man nur solche Mittel zur Erfrischung einsetzen, die das natürliche innere Gleichgewicht nicht langfristig stören: luftiger Schatten hilft, ein Ventilator oder ein Luftentfeuchter erleichtern das Schwitzen. Auch kühles Wasser verschafft Abhilfe, allerdings sollte es den Körper immer von außen erreichen, nie von innen, wie dies bei einem gekühlten Getränk der Fall ist. Trinken wir etwas Kühles, so muss der Organismus das Qi von der Oberfläche nach innen holen, um das Innere wieder zu wärmen. Dies gibt zwar kurzfristig ein Gefühl der Kühlung, bremst aber die periphere Durchblutung und das Schwitzen und raubt dem Körper so seinen besten Schutz gegen die Hitze. Über eine Klimaanlage wären die Autoren des Huangdi Neijing im ersten Jahrtausend vor Christus wohl entsetzt gewesen. Sich mitten im Hochsommer stundenlang in einen Eisschrank zu setzen, stört die natürlichen Regelmechanismen des Organismus nachhaltig und führt über kurz oder lang in vielen Bereichen der Gesundheit zu Ungleichgewichten und Blockaden.
Für die Verdauung bedeutet der Sommer eine Zeit der relativen Schwäche. Wenn das Qi sich stark an die Körperoberfläche bewegt, so fehlt es im Zentrum, sprich in den inneren Organen. Da die Verdauung aber sehr viel Qi benötigt, kann sie während der warmen Stunden nur unzureichend arbeiten. Deshalb sollte die Ernährung im Sommer leicht sein, wenig fette oder schwer verdauliche Speisen enthalten. Sparen kann man auch bei den tierischen Nahrungsmitteln (welche insgesamt eher schwer verdaulich sind), am ehesten trägt es etwas mehr Fisch und leichte Milchprodukte. Die tragenden Säulen der sommerlichen Ernährung sind Gemüse, Obst, leichte Getreide und Hülsenfrüchte.
Von der thermischen Wirkung her sollte man an heißen Sommertagen allzu wärmende Nahrungsmittel und Speisen und Getränke natürlich vermeiden, also allen voran wärmende Gewürze und Kräuter, die Lauchfamilie, wärmende Fleischsorten, Kaffee und alkoholische Getränke vom Wein aufwärts (während das Bier kühlt und die Hitze erträglicher machen kann). Auch stark yangisierende Kochmethoden wie das Grillen, das Rösten, das Frittieren oder das trockene Backen im Rohr eignen sich nicht für die heiße Jahreszeit. Einen kühlenden Effekt hingegen haben die meisten Gemüsesorten und Salate, sowie das meiste Obst. Um die kühlende Wirkung beizubehalten eignen sich Zubereitungsarten, bei denen keine oder wenig Hitze und/oder viel Wasser im Spiel ist, also roh essen (mit dem Nachteil der teils schweren Verdaubarkeit), Säfte oder Smoothies, milchsauervergorene oder gekeimte Nahrungsmittel, ebenso wie alle gedämpften, gekochten oder suppig zubereiteten Speisen. Um Sommerhitze auszuleiten werden in der chinesischen Ernährungslehre insbesondere folgende Nahrungsmittel eingesetzt: Ananas, Wasser- und Honigmelone, Mungbohnen und deren Sprossen, außerdem sind neben vielen anderen auch Grüntee, Zitrone, Tomate, Chinakohl, Apfel und Orange zu empfehlen.
Um das Schwitzen zu erleichtern und verlorene Substanzen zu ersetzen ist es im Sommer natürlich sehr wichtig, ausreichend zu trinken. Wie schon gesagt, sollten die Getränke immer mindestens Raumwärme haben, auf keinen Fall aber gekühlt sein. Besser als reines Wasser können leichte Säfte oder Tees den Durst stillen, allerdings sollte man während der heißesten Stunden des Tages nach der Logik der TCM auch mit sehr sauren Getränken eher zurückhaltend sein: der saure Geschmack wirkt adstringierend, was zwar dabei hilft den Durst zu stillen aber gleichzeitig auch das Schwitzen reduziert . Also saure Säfte und Getränke besser erst abends, wenn es kühler wird. Ideal während der heißen Stunden, weil gleichzeitig kühlend und leicht schweißtreibend sind Minze, Holunderblüten und Lindenblüten.