Emotionen in der TCM – Teil 2
Aus dem Yin wächst das Yang, auf den Winter folgt der Frühling und auf die Wandlungsphase Wasser das Holz. Was die Natur im Frühling bewegt, kann diese Wandlungsphase sehr gut darstellen: Samen (eine beinahe perfekte Verkörperung des Yin) keimen; die Bäume holen ihre Säfte aus den Wurzeln und treiben Knospen und junges Grün; Tiere erwachen aus dem Winterschlaf und kriechen aus ihren Höhlen. Kurz: all das, was den Winter ruhig, dunkel und dicht gepackt überdauert hat, bricht nun auf und entfaltet seine Kräfte. Die Dynamik der Wandlungsphase Holz geht nach oben und nach außen und sie ist gekennzeichnet von einem starken Drang nach Entfaltung.
In der TCM wird die Wandlungsphase Holz mit den Funktionskreisen Leber und Gallenblase korreliert. Wie jede der fünf Wandlungsphasen manifestiert sich auch das Holz in einem breiten Spektrum von Emotionen, welche von leisen Regungen bis zu übermächtigen, krankhaften oder krankmachenden Gefühlen reichen können. Beginnen wir der Einfachheit halber am „kranken“ Ende dieses Spektrums.
Die mit dem Holz korrelierte Emotion, welche im Übermaß den Funktionskreis Leber stört, bzw. Ausdruck einer Störung der Leber sein kann, ist die Wut. Energetisch ist die Wut Ausdruck des Leber-Yang, also der aktiven Kraft dieses Funktionskreises, welches sich ungehindert frei macht. Die Bewegung nach oben und außen bestimmt diese Emotion: das Gesicht läuft rot an, es wird geschrien, gefuchtelt, bisweilen Porzellan zerschlagen. Wut reißt uns sozusagen energetisch aus der Verankerung, und die meisten gesundheitlichen Folgen von übermäßiger oder lange anhaltender Wut haben naturgemäß mit dieser unkontrollierten Aufwärtsbewegung des Leber-Yang zu tun. Es handelt sich um Kopfschmerzen, Schwindel, Tinnitus, Bluthochdruck, sowie bestimmte Formen der Schlafstörung.
Als Folge eines Ungleichgewichts entsteht Wut nach der TCM immer dann, wenn das Yin-Yang-Gleichgewicht der Leber zugunsten des Yang kippt. In der TCM sagt man dann, das Leber-Yang, welches eigentlich vom Yin-Anteil der Leber verankert und ruhig gehalten werden sollte, reißt sich los und steigt auf. Im Unterschied zu einer „gesunden“ Wut, welche durch ein reales Ereignis ausgelöst wird, der Ursache angemessen bleibt und sich nach Beseitigung derselben von selbst wieder legt, entsteht die Wut in Folge eines Ungleichgewichts ohne ausreichende Ursache, sozusagen aus dem Nichts, oder hält als Grundstimmung dauerhaft an.
Bei dieser Art der Wut kann man nach der TCM zwei unterschiedliche Mechanismen unterscheiden, die sich auch in unterschiedlichen Emotionen manifestieren. Zum einen kommt es vor, dass das Leber-Yang selbst stark genug ist (manchmal auch durch Stagnation „aufgeheizt“, wie wir im Folgenden noch sehen werden), um sich loszureißen. Dann sprechen wir in der TCM von einem Leber-Feuer. Die damit einhergehende Wut ist plötzlich, aufbrausend, kraftvoll und heftig. Die Betroffenen können sich nur schwer kontrollieren und haben typischerweise den Drang, handgreiflich zu werden. Selbst wenn sie sich äußerlich unter Kontrolle haben, so kommen innere Bilder von gewalttätigen Handlungen gegen Dinge oder Personen auf. Diese Form der Emotion ist typisch für Kinder und für Männer im besten Alter, deren Yang von Natur aus sehr stark ausgeprägt ist und bei Störungen relativ leicht zu einem Feuer führen kann.
Die zweite Form der Wut als Folge eines Ungleichgewichtes ist dagegen häufiger bei Frauen, bzw. bei schwächeren oder älteren Menschen zu finden. Das Leber-Yang ist in diesem Fall nur relativ übermächtig, und zwar deshalb, weil der Yin-Anteil der Leber zu schwach ist, um es zu verankern. Diese Form der Wut verläuft nicht explosiv, sondern über längere Phasen, welche typischerweise mehr von Schwäche als von Kraft gezeichnet sind. Bei dieser Art von „leerer“ Wut wird mehr genörgelt, gestichelt, intrigiert und manipuliert, weniger mit der Faust auf den Tisch gehaut. Die Ungleichgewichte, welche hinter dieser Form der Wut stecken, werden in der TCM als Leber-Blut-Mangel oder Leber-Yin-Mangel beschrieben.
Beide Formen von Wut sind sehr oft mit Frustration vergesellschaftet, also dem, was die chinesische Medizin eine Leber-Qi-Stagnation nennt. Um zu verstehen, wie die TCM Frustration erklärt und welcher Zusammenhang zur Wut besteht, müssen wir uns aber erst ansehen, welches die positiven emotionalen Aspekte des Funktionskreises Leber sind.
In der Chinesischen Medizin wird der Funktionskreis Leber als der General dargestellt. Der General schaut von einem Hügel aus über das Land und entscheidet, in welche Himmelsrichtung er seine Truppen schicken soll. Er legt die Strategien fest und plant den Nachschub. Die Leber setzt natürlich keine Truppen ein, dafür aber ihre Kraft: Yang und Qi. Was diesen inneren General antreibt, ist die Lust auf Entfaltung, auf Selbsterprobung und Abenteuer, und die Notwendigkeit sich einen Platz auf dieser Welt zu erobern. Wie ein Spross, der es schafft den Asphalt zu sprengen, entfaltet die Leber dabei große Kräfte, welche aber – im Idealfall – ebenso flexibel und weich sind, wie Sprossen und Keime. Flexibilität und Toleranz sind die Eigenschaften dieser sich entfaltenden Kraft der Leber, wenn sie ausgeglichen ist. Die positive Kraft der Leber brauchen wir um Zukunftsvisionen zu entwickeln, uns auf veränderte Situationen einzulassen und bis ins hohe Alter immer wieder etwas Neues zu beginnen.
Bei jedem Impuls, jeder Regung, vor jeder Handlung wird von der Leber das Qi mobilisiert, ausgerichtet und auf den Weg geschickt. Sooft wir aber einen Impuls unterdrücken oder einer Regung nicht folgen, bleibt dieses Qi sozusagen auf halbem Wege stecken: es stagniert. Dies ist ein Bild, das sehr gut die Entstehung einer Leber-Qi-Stagnation erklären kann, einer extrem häufigen Störung. Traditionell erklärt die TCM diese Störung vor allem dadurch, dass typische Leber-Emotionen blockiert oder zurückgehalten werden, also allen voran die Wut. In der Praxis aber kann man auch bei solchen Menschen eine starke Leber-Qi-Stagnation beobachten, die schlichtweg zu viel Kontrolle über ihre spontanen Impulse ausüben, also zum Beispiel bei sehr pünktlichen, beherrschten, rücksichtsvollen, verlässlichen oder tendenziell perfektionistischen Zeitgenossen (und im Allgemeinen sehr oft bei Frauen). Der General Leber gerät also auch dann in Schwierigkeiten, wenn er kein Held und Abenteurer sein darf, sondern zu Diplomatie und Rücksicht gezwungen wird. In diesem Sinne ist ein bestimmtes Maß an Leber-Qi-Stagnation wohl auch unerlässlich für ein ziviles Leben.
Nur zu viel werden darf diese Frustration nicht. Werden die Impulse und Bestrebungen nach Entfaltung zu häufig blockiert, so stagniert das Leber-Qi heftig und es kommt zu spürbaren Störungen. Die Stagnation wiederum lässt das Leber-Qi „erhitzen“ und führt wie in einem Druckkochtopf zu periodischen Entladungen des Leber-Yang nach oben mit den genannten emotionalen und gesundheitlichen Folgen.
Der Lebensabschnitt, in dem die Wandlungsphase Holz und der Funktionskreis Leber mit seinen Emotionen besonders im Vordergrund stehen, ist die Kindheit. Kinder haben ein starkes Leber-Yang, welches sich positiv in Bewegungsdrang, Neugierde, Unternehmungsgeist und Abenteuerlust zeigt. Kinder haben von Natur aus Lust auf Neues. Stark ist auch ihr Drang, sich selbst Raum zu verschaffen und die bestehenden Freiräume bis hart an die Grenzen auszutesten.
Allerdings sind auch Störungen in der Wandlungsphase Holz während der Kindheit sehr häufig und besonders oft zeigen sie sich in Emotionen und Verhalten der Kinder. Wutanfälle, aggressives oder provozierendes Verhalten, wiederholte Verstöße gegen Regeln, Zerstörungswut, Sturheit sind Spielarten von gestörten Leberemotionen. Weshalb kommt es zu diesen Störungen? In der Betrachtungsweise der TCM und ohne uns zu weit in psychologisches Terrain vorzuwagen, können wir feststellen, dass der General Leber zwei Dinge braucht, um sich gut zu entwickeln: Freiraum und eine Richtung. Werden bei Kindern die Grenzen zu eng gesteckt, können sie sich nicht ausreichend entfalten. Heutzutage ist seltener eine zu strenge Erziehung daran schuld, als vielmehr das Fehlen von echten Freiräumen. Moderne Kinder verbringen die meiste Zeit in geschlossenen Räumen und unter der Kontrolle von Erwachsenen, sie fügen sich engen Stundenplänen und den Erwartungen anderer. Deshalb gilt zum einen: Kinder brauchen Bewegung im Freien, Freiheit, Abenteuer und echte Herausforderungen! Zum anderen aber brauchen Kinder auch klare Regeln und verlässliche, unverrückbare Grenzen. Ansonsten verliert die Stoßkraft der Leber ihre Orientierung, verzettelt sich in Scharmützeln und läuft sozusagen mit dem Kopf gegen die Wand. Denken wir an einen Spross: seine Kraft erhält er erst mit der Richtung; ohne Schwerkraft, ohne Licht könnte er nicht wachsen. Aus den typischen Emotionen der Leber erklärt sich auch die sprichwörtliche Egozentrik und Grausamkeit von Kindern (oder von Erwachsenen, die in ihrer Entwicklung in der Holzphase steckenbleiben). Wahres Mitgefühl und die Fähigkeit zu selbstloser Liebe entfalten sich so richtig erst später, während der Wandlungsphase Feuer. Diese Wandlungsphase, ihr Bezug zum Funktionskreis Herz und zur Freude sind unser Thema für das nächste Mal.
Hier eine Übersicht über alle 5 Teile dieser Beitragsreihe
Teil 1 – Die Angst
Teil 2 – Die Wut
Teil 3 – Die Freude
Teil 4 – Das Denken
Teil 5 – Die Traurigkeit
Liebe Frau Wallnöfer,
ich beschäftige mich auch schon länger mit der TCM und zu meinem Leidwesen auch mit der Leber-Qi-Stagnation. Ihr Artikel ist sehr schön und erklärt das Thema wirklich gut und leicht verständlich!
Freundliche Grüße
Nadine Ebert
Vielen Dank und alle Gute!
LG Karin