Das Weizengras

Engelchen und Teufelchen finden sich zur Zeit in der Ernährung ganz nahe beisammen: während der Weizen wegen seinem Gluten für viele als der Bösewicht schlechthin dasteht, rangiert das Weizengras ganz oben in der Bestenliste der Superfoods. Letzteres sicherlich zu Recht, davon war man schon im antiken China überzeugt. Fu xiao mai heißt der Weizen auf Chinesisch, und er wird aufgrund seiner wertvollen Wirkungen in der Kräuterheilkunde eingesetzt. So soll der thermisch kühle Weizen den Geist beruhigen und den Funktionskreis Herz nähren und stärken, was bei innerer Unruhe und Schlafstörungen hilfreich ist. Eines der wohl bekanntesten Rezepte der chinesischen Heilküche, Gan mai da zao tang, kombiniert vollen Weizen mit Süßholz und chinesischen Jujuben in einer Abkochung, die gegen Schlafstörungen, innere Unruhe und depressive Stimmung wirkt. Das Rezept findest du im Anschluss an den Text. Eine weitere wichtige Wirkung des Weizens ist, dass er das Schwitzen vermindert, und zwar vor allem den spontanen Schweiß bei einer Schwäche des Qi (z.B. im Anschluss an eine Erkrankung der Atemwege) und den Nachtschweiß. Auch in diesen Fällen würde man eine Abkochung zubereiten.

Es braucht den Keimling

Wichtig ist es allerdings immer, den vollen Weizen zu verwenden, denn die positiven Wirkungen des Korns stecken augenscheinlich zu einem großen Teil im Keimling. Wir finden diese Wirkungen im Weizenkeimöl, im gekeimten Weizen, im Weizengras, nicht aber im raffinierten Weizenmehl, im Couscous oder im Bulgur. Auch die gängigen Vollkornprodukte enthalten den Keimling (und damit die genannten Wirkungen) nicht mehr, denn er wird vor dem Mahlen entfernt. Die im Keim enthaltenen ungesättigten Fettsäuren würden rasch ranzig und die Vermarktung des Mehls dadurch unglaublich schwierig. Wollen wir die wertvollen Eigenschaften des Weizens auskosten, bleibt uns also nichts anderes übrig, als das Getreide im ganzen Korn zu kochen oder das Mehl frisch zu mahlen. Letzteres geht mit einer kleinen Haushaltsmühle im Nu, notfalls bieten es aber auch die meisten Naturkostläden als Service für ihre Kunden an.

Der gekeimte Weizen 

Soweit zum Weizen. Auf dem Weg zum Weizengras machen wir nun beim gekeimten Weizen Halt. Über das Weizengras besitzen wir nämlich keine traditionellen Angaben in der TCM, sehr wohl aber über den Weizenkeim, der in der Heilkräuterkunde als Xiao mai ya bezeichnet wird. Gemeint ist damit der gekeimte, getrocknete Weizen, bei dem der Keim in etwa so lange ist, wie das Korn selbst. Einen solchen gekeimten Weizen zu Hause herzustellen ist wirklich sehr einfach und verlangt uns nur wenige Tage Geduld ab: der Weizen wird einen halben Tag lang in Wasser eingeweicht, dann wird das Wasser abgegossen und der Weizen zweimal täglich gespült. An einem nicht zu warmen und schattigen Ort lässt der Keim nicht lange auf sich warten. Verwende besser eigens zum Keimen geeignetes Getreide mit einer hohen Keimfähigkeit und frisches, ungechlortes Wasser. Vom Weizenkeim zum Weizengras ist die Herstellung dann schon um einiges schwieriger. Weizengras wird idealerweise in einer gehaltvollen, gesunden Erde gezogen, was den Gehalt an Spurenelemente erweitert und das Gras so besonders wertvoll macht. Ich selbst ziehe zwar regelmäßig Keime, doch was das Gras betrifft verwende ich – nach mehreren gescheiterten Versuchen, es selbst zu ziehen – das fertige Pulver.

Gegen Entzündungen und Hitze

Was sagt die TCM nun über diesen gekeimten Weizen, und was können wir so indirekt auch über das Weizengras in Erfahrung bringen? Zunächst wird ihm eine kalte thermische Wirkung zugeschrieben. Die thermisch leicht kühlende Wirkung des Weizens wird durch das Keimen also um einiges gesteigert. Viele Bereiche, in denen der gekeimte Weizen laut TCM seinen Einsatz findet, haben in der Tat mit dieser seiner kalten Natur zu tun. Er eignet sich sehr gut, um Hitze im Bereich von Magen und Darm zu klären, zum Beispiel bei einer Verstopfung mit harten Stühlen, einer Gastritis oder einer chronisch-entzündlichen Erkrankung des Darms. Auch Hitze im Funktionskreis Leber mit Kopfschmerzen, Blutandrang im Kopf, Reizbarkeit oder Wutanfällen, und Hitze im Funktionskreis Herz mit innerer Unruhe, Schlafstörungen oder übelriechendem Achselschweiß können wir den Angaben der TCM nach mit dem gekeimten Weizen behandeln. 

Das Blut nähren, vor allem für Frauen

Daneben aber hat der gekeimte Weizen trotz allem noch einen süßen Geschmack und, wie das Korn aus dem er stammt, natürlich auch ausgezeichnete nährende Eigenschaften. In der Tat enthält der gekeimte Weizen große Mengen an Vitaminen, Eiweißen und Spurenelementen, und ist damit im Sinne der TCM ein sehr gutes Mittel, um Blut und Yin zu nähren. Diese Eigenschaften, davon können wir ausgehen, sind beim Weizengras sogar noch stärker ausgeprägt. Meine Erfahrung mit dem Weizengras ist, dass man schon bei einem Teelöffelchen am Tag den Wangen tatsächlich dabei zusehen kann, wie sie von Tag zu Tag rosiger werden. Weizengras wird so zu einem sehr guten Mittel, wenn es – vor allem bei Frauen im fruchtbaren Alter – darum geht, das Blut zu nähren: bei einer spärlichen Menstruation, bei Blässe und Eisenmangel, sowie vorbereitend und begleitend zu einer Schwangerschaft (Weizengras ist unter anderem sehr reich an Folsäure!). Die Unbedenklichkeit und der angenehme Geschmack machen das Weizengras auch für Kinder gut einsetzbar. Aber: vergessen wir nicht, dass sowohl der gekeimte Weizen als auch das Weizengras stark kühlen. Also bitte Vorsicht bei Kälteempfindungen, Blähungen und weichen Stühlen oder anderen Anzeichen für eine schwache Yang-Wurzel (all dies ist gerade bei Frauen im fruchtbaren Alter und bei Kleinkindern keine Seltenheit).

Das Yin nähren im Alter und während der Wechseljahre

Für ältere Menschen im allgemeinen und besonders für Frauen während oder nach den Wechseljahren ist das Nähren des Blutes nicht mehr vorrangig, denn dann geht es vor allem um das Yin und die Essenz, das “Jing”. Beides kann sowohl der Keim als auch das Gras bieten, wobei nach den Überlegungen der TCM wohl der Keim über mehr Essenz verfügt. Die ab den Wechseljahren typischen Hitzewallungen, der Nachtschweiß und die Schlafstörungen sind keine Anzeichen für ein echtes Übermaß des Yang, es steckt dahinter also keine “Fülle-Hitze”. Diese Symptome – wir sprechen in der TCM von “Leere-Hitze” – entstehen nach der TCM vielmehr dadurch, dass das “gute”, physiologische Yang durch ein zu schwaches Yin nicht ausreichend verankert werden kann. Das merkt frau daran, dass sie nach Abklingen der Hitzewallung und nachdem sie schweißgebadet aufwacht, friert. Die verlorene Wärme war also nicht zu viel (wie dies bei einem hitzigen 20-Jährigen der Fall sein mag, der im Januar kurzärmlig nach draußen geht und die Abkühlung genießt), sondern wird nach dem Verlust schmerzlich vermisst. Hier brauchen wir also keine Kühlung, sondern eine Unterstützung für das Yin.

Auch bei diesen Ungleichgewichten sind Weizenkeim und -gras durch die kombinierte Wirkung (kühlen und Yin nähren) sehr hilfreich: die kühlende Wirkung hält das Yang im Zaum, während die Yin-Wurzel rundum unterstützt und genährt wird. Allerdings sollten wir es auch hier mit dem Kühlen nicht übertreiben und unbedingt auf Anzeichen von Kälte achten. Wird bei einer Leere-Hitze zu stark gekühlt, so vermindert dies zwar die Symptome (das Yang wird ja schwächer und dadurch auch weniger störend). Doch führt diese Strategie letztlich zu einer Schwäche von Yin- und Yang-Wurzel, und nicht dazu, das Yin dahingehend zu unterstützen, dass es das Yang wieder verankern und beruhigen kann. Mein Fazit also: auch bei Leere-Hitze sind die Weizenprodukte wirklich sehr wertvoll, doch auch hier würde ich raten, auf ihre stark kühlende Wirkung zu achten und diese gegebenenfalls durch die Kombination mit wärmenden Zutaten auszugleichen.

Übrigens ganz zum Schluss eine beruhigende Information in Bezug auf das Gluten: Weizengras enthält kein Gluten (manche Firmen bestätigen dies auch auf der Packung), während in gekeimtem Weizen natürlich Gluten enthalten ist.

Rezepte

Gan mai da zao tang, auch “happy-tea”

9 g Süßholz (chin. Gan cao)
1 EL voller Weizen
10 chinesische Jujuben (chin. Da zao)
Alle Zutaten in einem halben Liter Wasser auf kleiner Hitze und zugedeckt 30 Minuten kochen lassen. Die Abkochung absieben und trinken.

Kokosbällchen mit Weizengraspulver

150 g Ricotta oder Topfen
3 EL Vollrohrzucker
50 g Kokosmehl (falls der Topfen sehr wässrig ist, etwas mehr)
3 TL Weizengraspulver
1 Prise Salz
etwas Zitronensaft oder -schale
Alle Zutaten außer einem TL Weizengraspulver und einem EL Zucker miteinander vermischen und verkneten. Daraus Bällchen formen und diese in der Mischung aus Weizengraspulver und Zucker wälzen. In Italien würde man dazu sagen: uno tira l’altro, also: es ist leicht damit anzufangen, aber sehr schwer damit aufzuhören.

2 Kommentare zu „Das Weizengras“

  1. hallo karin,

    das sind ja tolle eigenschaften. nur die sehr kuehlende eigenschaft haelt mich etwas davon ab es zu konsumieren. kann ich mit etwas zimt oder ingwer die kuehlende eigenschaft abschwaechen?

    mit freundlichen Gruessen

    eugenia polites

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert