Die meisten gängigen Sportarten trainieren die Muskeln. Viele feste Muskeln zu haben, das bedeutet Kraft und einen gesunden (und schönen) Körper. Vielleicht klingt es deshalb für manche auch abwegig, aber aus der Sicht der chinesischen Medizin ist das alleinige Muskeltraining für die Gesundheit nicht unbedingt zuträglich. Im Qigong jedenfalls trainiert man nicht die Muskeln, sondern das Qi und … die Knochen.
Aufrecht stehen und doch gleichzeitig entspannt sein, das ist für viele Anfänger beim Qigong sehr anstrengend. Das lange Stehen lässt Spannungen entstehen, man wird schwindelig und hat Angst umzufallen, die Fußsohlen schmerzen, das Kreuz wird weich, die Knie tanzen. Warum nur muss man sich das antun? Wenn es so wichtig ist, sich zu entspannen, weshalb dann nicht im Liegen trainieren? Und wie kann man das Stehen besser meistern?
Die allermeisten Übungen des Qigong finden im Stehen statt. Es gibt zwar auch Übungen im Sitzen und im Liegen und im Prinzip kann jede einzelne Übung an diese Positionen angepasst werden, was bei älteren, kranken oder bettlägerigen Menschen auch gemacht wird. Aber das Üben im Stehen ist und bleibt die Königsdisziplin des Qigong und das hat mit der Bedeutung der Senkrechten zu tun. Die wichtigsten Meridiane verlaufen im Körper parallel zur Wirbelsäule, also in auf- oder absteigender Richtung am Rumpf entlang. Wenn wir Menschen aufrecht stehen, so richten wir unser Meridiansystem nach den auf- und absteigenden Energieströmen zwischen Himmel und Erde aus, unser Körper wird sozusagen zu einer Art Antenne für diese kosmischen Energien. Das kosmische Qi wahrnehmen, es in das Meridiansystem einschleusen und das Qi in einen harmonischen, auf- und absteigenden Fluss zu lenken, das ergibt den eigentlichen Kern vieler Qigong-Übungen und es ist in aufrechter Position bedeutend leichter.
Es wäre also gut, aufrecht zu stehen, doch nicht stramm wie ein Soldat, entspannt! Gleichgültig, welchen Qigong-Stil man praktiziert, immer wieder hört man die Aufforderung relax, lass los, fang song! Weshalb ist es im Qigong nur so enorm wichtig, sich zu entspannen? Es gibt wohl mehrere gute Antworten auf diese Frage, eine sehr einfache Antwort aber ist fundamental: ein angespannter Muskel hindert das Qi daran, zu fließen. Mein erstes großes Aha-Erlebnis in diese Richtung hatte ich, als ich als frisch gebackene Shiatsu-Praktikerin in der SPA eines Luxushotels mehrere Profifußballer unter die Daumen bekam. Junge, topfitte, kraftstrotzende Männer, da erwartete ich natürlich viel Vitalität und deshalb auch viel Qi. Was ich fand, war das Gegenteil: die harten, von Operationsnarben durchzogenen Muskeln fühlten sich für mich irgendwie unbelebt an. So sehr ich auch suchte, ich konnte das Qi kaum wahrnehmen, Meridiane und Punkte reagierten nicht auf die Berührung und den Druck. Muskeln, die sich so ähnlich anfühlen und an denen kaum Qi zu spüren ist, findet man als Shiatsu-Praktiker natürlich nicht nur an den Beinen von Profi-Fußballern. Darf sich ein Muskel über längere Zeit nicht entspannen, so verhärtet er, es entsteht eine Spannung, die sich nur mehr sehr schwer lösen lässt. Energetisch läuft in so einem Muskel nicht mehr allzu viel.
Viele Menschen haben ähnlich harte und chronisch angespannte Muskeln irgendwo an ihrem Körper. Dabei kann es sich um relativ oberflächliche Muskeln handeln, wie der klassisch verspannte Trapezmuskel am Nacken, oder um tiefer liegende Muskeln, zu denen wir nur über die innere Wahrnehmung Zugang haben. In den allermeisten Fällen haben diese Verspannungen mit einer falschen oder einseitig belastenden Haltung zu tun (gestaute Emotionen sind die zweite häufige Ursache für Verhärtungen der Muskulatur). Der Grund für solche Verspannungen ist immer der, dass wir uns, willentlich oder nicht, mit der Kraft der Muskeln aufrecht halten, anstatt das Gewicht an die Knochen abzugeben. Die Knochen können das Gewicht nur dann übernehmen, wenn sie der Schwerkraft folgend entlang einer senkrechten Linie angeordnet sind. Ganz gleich ob wir – Brust raus und Bauch rein – stramm stehen oder uns ganz im Gegenteil lasch hängen lassen: immer müssen die Muskeln die Arbeit erledigen und sind damit eigentlich immer überfordert. Der Plan, uns mit Muskelkraft aufrecht zu halten, führt über kurz oder lang in eine Sackgasse, denn Muskeln sind nicht dafür gemacht, vierzehn Stunden am Tag angespannt zu bleiben und kapitulieren früher oder später. Es entsteht ein Teufelskreis aus Spannung, stagnierendem Qi, daraus resultierender eingeschränkter Durchblutung und verminderter Regeneration des gesamten Areals, außerdem einer einseitigen und chronischen Überbelastung von Bändern, Sehnen und Gelenken.
Im Qigong sind solche chronisch verspannten Muskeln ein großes Problem, denn sie verhindern den glatten Fluss des Qi. Deshalb steht beim Qigong für Anfänger eigentlich immer das entspannte Stehen ganz oben auf der Liste der zu erlernenden Grundlagen. Für die entspannte aufrechte Haltung gibt es auch im Qigong nur eine einzige zielführende Strategie: die Knochen das Gewicht tragen lassen und die Muskeln so weit wie möglich entlasten. Besonders wichtig ist die aufrechte, entspannte Haltung was den Oberkörper betrifft, denn hier verlaufen die wichtigsten Meridiane, wahre Qi-Autobahnen wie der Dumai, der Renmai und der Chongmai. Im Qigong nimmt man deshalb eine bestimmte Kraftanstrengung in den Beinen in Kauf, wenn dadurch das entspannte Aufrichten des Oberkörpers ermöglicht wird. Das Prinzip lautet: unten fest und oben leicht.
Wie diese aufrechte Grundposition im Qigong im Einzelnen aussieht, kann hier nur kurz überrissen werden, ist aber sicherlich Gegenstand jedes Qigong-Unterrichts: die Füße stehen schulterbreit auseinander, die Zehen zeigen nach vorne, die Knie sind offen, also nicht durchgestreckt sondern leicht gebeugt, das Becken ist leicht nach hinten gekippt, das Schambein steigt also, während das Steißbein sinkt, die Wirbelsäule richtet sich in ihrer natürlichen, leichten Wölbung senkrecht auf, auf entspannte Weise gestreckt durch das Absenken des Steißbeins und das Anheben des höchsten Punktes am Schädel.
Diese Position kann von unten her aufgebaut oder von oben her eingerichtet werden, in beiden Fällen gilt, dass die Spannungen Schritt für Schritt nach unten hin aufgelöst und dabei das Gewicht an die Senkrechte, also an die Knochen abgegeben wird. Durch das Auflösen der Spannung entsteht ein Gefühl von innerer Einheit und Durchlässigkeit. Das Qi kann sinken, die Fußsohle öffnet sich und es entsteht das Gefühl der Erdung. Durch die Erdung werden auch aufsteigende Energiebahnen aktiviert, allen voran der Nierenmeridian mit seinem Ursprung in der Mitte der Fußsohlen.
Ein wichtiger Begleiter auf dem Weg zum entspannten Stehen ist der Atem. Zum einen hilft der Atem dabei, Spannungen und Blockaden nach unten hin aufzulösen. Dafür lenkt man den Atem gedanklich an die verspannte Stelle im Körper und lässt während der Ausatmung die Spannung los und das Qi sinken. Zum anderen ist die Atmung auch eine wertvolle Hilfe, wenn es darum geht, die Fortschritte auf dem Weg zur Entspannung wahrzunehmen. In einem verspannten Bauch und Rücken kann der Atem sich nicht ausbreiten, er bleibt mehr oder weniger auf den Brustraum beschränkt, mit allen negativen gesundheitlichen Folgen einer solch oberflächlichen Atmung. Je mehr die Muskulatur nachlässt, je stärker das Qi nach unten sinken kann, desto weiter sinkt auch die Atmung in den Bauch und in den unteren Rücken, wird tiefer, ruhiger und langsamer.
Die bekannteste Übung zum Erlernen und Üben des entspannten Stehens ist das zhan zhuang, zu deutsch meist als „stehen wie ein Baum“ oder „stehende Säule“ übersetzt. In dieser Übung ist die aufrechte Haltung besonders für Anfänger nicht nur eine Herausforderung, sondern auch ein wertvolles Hilfsmittel. Wird die Position nämlich für längere Zeit gehalten, so melden sich all jene Muskeln, Gelenke und Körperpartien durch unangenehme Empfindungen oder Schmerzen, in denen sich die Spannungen nicht lösen und das Gewicht nicht abgeleitet werden kann. Bei aufmerksamem Üben ist es also ein Leichtes, die Blockaden zu lokalisieren. Um sie aufzulösen benötigt man sicher etwas mehr Geduld und möglichst einen guten Lehrer. Doch ist es immer wieder überraschend zu sehen, wie viel Vitalität in unseren Körpern steckt und zu wie viel Veränderung sie trotz lange eingefahrener falscher Haltungs- und Bewegungsmuster fähig sind, wenn man mit Aufmerksamkeit, Geduld und entspannter Hartnäckigkeit daran arbeitet.