Yin und Yang der Niere
Wenn es ums Altern geht, denken wir in der Chinesischen Medizin erstmal an die Essenz, das Jing. Die Theorie besagt, dass wir die Essenz bei der Zeugung von den beiden Eltern erhalten und sie im Funktionskreis Niere gespeichert wird. Sie bestimmt in der ersten Lebenshälfte die Entwicklung und in der zweiten das Altern. Ab der Mitte des Lebens nimmt die Essenz langsam ab und bestimmt bzw. begleitet dadurch den Alterungsprozess. Typische Alterserscheinungen werden in der Chinesischen Medizin dem Rückgang der Essenz zugeschrieben: das Ergrauen oder Ausfallen der Haare, das Lockerwerden der Zähne, die zunehmende Vergesslichkeit und das Nachlassen von Sicht und Gehör.
All das ist allerdings eher bezeichnend für ein sehr vorgerücktes Alter. Noch vor dem spürbaren Rückgang der Essenz zeigen sich normalerweise andere Anzeichen, die zwar ebenfalls den Funktionskreis Niere betreffen, aber nicht die Essenz sondern deren Yin und Yang. Gemeint sind die Veränderungen rund um die Meno- bzw. Andropause. Bei beiden Geschlechtern betreffen diese Veränderungen, die sich sehr grob gesagt rund um den fünfzigsten Geburtstag abspielen, die Sexualhormone. Aus der Sicht der TCM entspricht das bei Frauen vor allem dem Nieren-Yin und bei Männern dem Nieren-Yang. In Wahrheit wird bei beiden Geschlechtern immer auch die jeweils andere Wurzel schwächer, denn im Funktionskreis Niere hängen Yin und Yang so eng voneinander ab, dass sie immer beide von einer Schwäche betroffen sind, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Dennoch ist bei Frauen das Nachlassen des Yin in den Wechseljahren sehr viel stärker spürbar, weil dieses während der fruchtbaren Jahrzehnte so stark und bestimmend ist. Das Nachlassen des Yin führt zu den Symptomen, unter denen die Frauen in den Wechseljahren denn auch mit am stärksten leiden. Es sind Anzeichen von Trockenheit oder Substanzmangel (in diese Richtung gehen Scheidentrockenheit, Faltenbildung der Haut und Abnahme der Knochendichte) sowie von einem Überhandnehmen des Yang, was wir in der Chinesischen Medizin als Leere-Hitze bezeichnen (wir denken an die Hitzewallungen, den Nachtschweiß, die innere Unruhe, Palpitationen oder Bluthochdruck). Symptome von Leber-Qi-Stagnation können vor allem während der Prämenopause auftreten. Sie stecken zum Beispiel hinter depressiver Verstimmung, Reizbarkeit, aber auch Dysmenorrhö, und erklären sich aus westlicher Sicht vor allem durch hormonelle Schwankungen während der Umstellungszeit (zur Leber-Qi-Stagnation hier eine sehr ausführliche Beschreibung). Manchmal werden bei Frauen wie gesagt auch die Anzeichen für ein schwächeres Nieren-Yang spürbar, wie ein verstärktes Kältegefühl, Antriebslosigkeit, eine verminderte Leistungsfähigkeit, nachlassende Libido oder eine Zunahme des Körpergewichts durch eine Verlangsamung des Stoffwechsels.
Vergleichbar, aber mit einer entgegengesetzten Gewichtung, sind die Anzeichen für eine Schwäche von Nieren-Yin und Nieren-Yang bei den Männern. Ihnen machen die Anzeichen für das Nachlassen des Yang sehr viel mehr zu schaffen. Das kommt vor allem daher, dass Männer vor dem Klimakterium an ein starkes Yang gewöhnt sind. Im Vordergrund stehen hier also Anzeichen für das Nachlassen des Yang (Kältegefühl, Nachlassen von Kraft und Leistungsfähigkeit, Müdigkeit oder Antriebslosigkeit, weniger Libido und nachlassende Potenz), aber es können durchaus auch Anzeichen für eine Schwäche des Nieren-Yin spürbar werden, wie zum Beispiel Wallungen oder ein starker Verlust an Knochendichte. Die Andropause entwickelt sich allerdings über einen längeren Zeitraum hinweg und gibt den Männern so mehr Gelegenheit, sich an die Veränderungen anzupassen. Die beiden Geschlechter nähern sich im Alter also einander an. Bei den Frauen wird vor allem das Yin weniger, bei den Männern vor allem das Yang.
Das physiologische Altern ist ein natürlicher Prozess, den wir nicht verhindern können. Was wir aber abfangen oder verlangsamen können, ist ein Alterungsprozess, der zu früh einsetzt oder zu rasch fortschreitet. Noch vor der Sorge um die Essenz schauen wir uns deshalb in diesem ersten Teil zum Thema Älterwerden an, wie wir das Yin und das Yang des Funktionskreises Niere stärken können. Ganz besonders wichtig sind diese Ratschläge in der Zeit rund um die Wechseljahre, doch können sie uns auch in den Jahrzehnten danach begleiten.
Sich nicht überfordern
In der zweiten Lebenshälfte lässt die Kraft langsam nach, das Qi wird spürbar weniger. Das ist ein Prozess, der noch vor Meno- und Andropause sehr langsam einsetzt. Es ist wichtig, dem Rechnung zu tragen und das eigene Leben so zu organisieren, dass es machbar bleibt. Das gilt für Arbeit und soziales Engagement ebenso wie für den sportlichen Ehrgeiz. Leicht geraten wir beim Nahen der Wechseljahre in eine Krise, weil das Leben, wie wir es uns in unseren Zwanzigern und Dreißigern eingerichtet haben, einfach zu anstrengend wird. Wer da nicht umdisponiert, gerät unter zunehmenden Druck. Es ist ratsam, die eigenen Kräfte gerade in diesem Alter realistisch einzuschätzen, sich nicht allzu viel vorzunehmen, und sich notfalls Freiräume zurückzuholen. Jede Überforderung und Überanstrengung schwächt den Funktionskreis Niere zusätzlich.
Dem zirkadianen Rhythmus folgen
Der Funktionskreis Niere hängt eng mit dem zirkadianen Rhythmus zusammen. Ein Leben im Einklang mit dem Biorhythmus stärkt Yin und Yang der Niere, während jede Abweichung die Niere schwächt. Die negative Wirkung betrifft dabei immer beide Wurzeln. Nach einer durchwachten Nacht ist einerseits das Yin schwächer, andererseits aber kann sich auch das Yang am Tag danach nicht gut entfalten. An einem Tag ohne jede Anstrengung wird das Yang nicht aktiviert, aber ich werde in der Nacht darauf auch nicht gut schlafen. So verstärkt sich die Schwäche von Yin und Yang gegenseitig. Wie eine Schaukel, die an Schwung verliert, schwingen wir weniger stark in Richtung Yin und Yang und verlieren dadurch an Vitalität.
Durch das Nachlassen der Nierenenergie wird es mit zunehmendem Alter schwieriger, sich von einer durchgemachten Nacht zu erholen oder Schichtarbeit problemlos wegzustecken. Jugendliche und junge Erwachsene können es sich leisten, in einem sozialen Jetlag zu leben und einem Dasein als Eule zu frönen. Ihr Funktionskreis Niere ist stark und macht die Einbußen an Vitalität wett. In der zweiten Lebenshälfte aber kommen die meisten Menschen freiwillig zu einem korrekteren zirkadianen Rhythmus zurück, und werden so wieder zu Lerchen. Alles andere zehrt einfach zu sehr an den Kräften. Ob wir frühe oder späte Chronotypen sind, Eulen oder Lerchen, entscheiden wir augenscheinlich weitgehend selbst. Der Organismus richtet sich nach unseren Gewohnheiten, den guten ebenso wie den schlechten.
Es gibt allerdings einen weiteren Zusammenhang zwischen Yin und Yang der Niere und dem zirkadianen Rhythmus. Menschen mit einer bedeutenden Schwäche im Funktionskreis Niere fällt es schwerer, in einen gesunden Biorhythmus zu finden. Durch die Schwäche des Nieren-Yang sind sie morgens besonders müde und kommen nicht in Schwung. Die Schwäche des Nieren-Yin dagegen bedingt, dass sie abends unruhig, vielleicht sogar überdreht werden, und nachts sehr spät und meist nicht gut schlafen. Ist der Funktionskreis Niere sehr schwach, etwa nach einem Burnout oder bei sehr betagten Menschen, so flacht der Biorhythmus ab und kehrt sich bisweilen geradezu um. Wir sind dann tagsüber sehr müde und nachts unruhig. Um den Funktionskreis Niere zu stärken, geht gerade dann kein Weg an einem Leben im Einklang mit den natürlichen Rhythmen vorbei (hier findest du einen Video-Kurs zu diesem Thema).
Nahrungsmittel, die die Niere stärken
Beim Stärken der Niere sprechen wir von Yin und Yang, aber es geht hier nicht vorrangig um die thermische Wirkung der Nahrungsmittel, sondern um andere Wirkungen. Nahrungsmittel, die die Niere stärken, haben sehr oft einen salzigen Geschmack, dessen Wirkung sich direkt auf den Funktionskreis Niere richtet. Was gut für das Yin ist, kann wunderbar mit dem kombiniert werden, was das Yang stärkt. Überhaupt sollten wir im Funktionskreis Niere Yin und Yang immer gleichzeitig unterstützen, denn die beiden entwickeln sich in enger Abhängigkeit voneinander. Was wir bei einer Schwäche des Funktionskreises Niere immer vermeiden sollten, gleichgültig ob Yin oder Yang stärker betroffen ist, ist eine Ernährung, die einseitig entweder nur das Yin unterstützt oder nur das Yang. Am besten bereitest du dir Speisen zu, in denen etwas aus jeder der beiden nachfolgenden Listen enthalten ist. In der Chinesischen Kräuterheilkunde ist es eine mögliche Strategie zum Stärken des Nieren-Yang, Heilmittel für das Nieren-Yin mit wärmenden Zutaten zu kombinieren. Und in der folgenden Aufzählung finden sich einige wenige Nahrungsmittel sogar in beiden Listen wieder. Das zeigt uns, wie eng Yin und Yang in der Niere beieinander liegen.
Für das Nieren-Yin sind wertvoll: Getreidegräser, schwarze Bohne, Sesam, Pinienkern, Leinsamen, Olive, Meeresalgen, Tomate, Weintraube, Johannisbeere, Maulbeere, Brombeere, Heidelbeere, Himbeere, Kirsche, Avocado, Schwein (daran zweifle ich persönlich), Ente, Miesmuschel, Auster, Venusmuschel, Sepia, Tintenfisch und Krake, Butter, Ghee, Sahne, Joghurt und Eier.
Das Nieren-Yang stärken: Quinoa, Wildreis, Walnuss, Pistazie, Kastanie, Pinienkern, Fleisch von Hirsch, Rind, Schaf, Ziege und Huhn, sowie die Nieren dieser Tiere, Krustentiere, Sardine, Miesmuschel und Seestern, außerdem Gewürze, die das Innere wärmen wie getrockneter Ingwer, Sternanis, Zimt, Wacholder, Gewürznelke und Fenchelsamen.
Chinesische Küchenheilkräuter für die Niere
Es handelt sich um eine Reihe von Heilmitteln, die in der chinesischen Tradition sowohl in Kräuterrezepturen als auch in der Küche verwendet werden. Es ist ein weites Feld und jedes einzelne dieser Mittel würde einen Beitrag füllen, weshalb ich mich hier darauf beschränke, die wichtigsten Mittel zu nennen.
Für das Nieren-Yang können empfohlen werden: Ginseng (ren shen), Cordyceps (dong chong xia cao), Teufelszwirnsamen (tu si zi), Walnuss (he tao ren).
Das Nieren-Yin unterstützen: Rehmanniawurzel (shu di huang), Knöterichwurzel (he shou wu), Schisandrabeere (wu wei zi), Gojibeere (gou qi zi), schwarzer Sesam (hei zhi ma)
In den noch folgenden Beiträgen zum Thema Älterwerden wird es um Stagnation, Tan und die systemische Hitze gehen, und ich werde einzelne, besonders wertvolle diätetische Heilkräuter vorstellen.
Vielen Dank für diesen wertvollen Beitrag ! Zu den Kräutern hätte ich eine Frage: wo bekomme ich diese? Und nehme ich sie dann als Tee oder zum Würzen der Speisen?
Ich habe eine Ausbildung für chin. Diätetik in München gemacht, aber mit chin. Kräutern kenne ich mich nicht so gut aus. Hast du vll ein Teerezept für Wechseljahrsbeschwerden wie Hitzewellen, Trockenheit und manchmal Durchschlafstörungen?
Liebe Grüße, Elisabeth
Liebe Elisabeth, die getrockneten chinesischen Kräuter findest du in den Chinaläden, in Apotheken oder zum Beispiel bei http://www.chinesischemedizin.com. Die Verwendung ist allerdings nicht ganz so einfach, weil sie sich meist nicht für einen Tee eignen. Sehr oft sind es Wurzeln oder Pilze, mit denen man besser eine Abkochung oder eine Suppe zubereiten kann. Ein paar der diätetischen Heilmittel habe ich in meinen Büchern über das Qi und das Blut beschrieben, etwas mehr habe ich für die nächste Zeit in diesem Blog geplant.
Als schneller Ratschlag für einen Tee bei Wechseljahrbeschwerden kann Schisandra dienen. Ich würde die Beeren ein paar Minuten lang aufkochen lassen. Schisandra wirkt adstringierend und so auch gegen den Nachtschweiß. Außerdem gilt sie als Tonikum des Yin und der Niere allgemein.
Liebe Grüße Karin
Vielen Dank für den interessanten Artikel, ich lese Ihre Blog-Beiträge sehr gerne, Ihre Darstellungen erscheinen mir klar und einleuchtend.
Zum Thema Schweinefleisch: Claude Diolosa hat einmal erwähnt, dass die Chinesen mit „Schwein“ ein schwarzes Schwein meinen, das man nicht mit den hier üblichen Schweinen vergleichen kann. Vielleicht deshalb die Diskrepanz? Ich achte sehr auf meinen „Yin-Aufbau“, vermeide Schweinefleisch aber gänzlich…
Herzliche Grüße aus Wien *Ulli