Das Fundament für die Gesundheit einer einzelnen Person ist nach der TCM deren vorgeburtliche Essenz, auf chinesisch jing 精. Auf dieses Fundament bauen Entwicklung und Gesundheit über die gesamte Lebensspanne hin bis zum Tod. Besonders wichtig ist die Rolle der vorgeburtlichen Essenz bei der Entwicklung des zentralen Nervensystems, für sexuelle Reife und Fortpflanzung. Aber auch die grundlegende Konstitution eines Menschen hat mit dem Funktionskreis Niere zu tun und mit der dort gespeicherten Essenz. Nach der TCM nimmt die Essenz in der zweiten Hälfte des Lebens langsam ab, ganz so als würde sie aufgebraucht werden, und bestimmt dadurch den Alterungsprozess. Es ist für unseren Lebenslauf also ausschlaggebend, mit wie viel Essenz wir starten und wie wir unterwegs damit haushalten.
Handlungsspielraum statt Fatalismus
Der Ursprung der Essenz liegt nach der TCM in der Vereinigung der vorgeburtlichen Essenzen von beiden Eltern. Wir denken dabei natürlich an die Gene. Allerdings entspricht die Theorie der Essenz nicht der mechanistischen Vorstellung einer Gensequenz, die blind repliziert wird. Die Idee der Essenz bildet eher die Erkenntnisse der Epigenetik ab, die beobachtet, wie Umwelteinflüsse, Stress oder Ernährung die Aktivierungsmuster einzelner Gene beeinflussen oder auch stören. Die Gene sind ein Buch. Wie dieses Buch gelesen und umgesetzt wird und welche Anweisungen zum Lesen und Umsetzen wir an unsere Kinder weitergeben, darüber bestimmt zu einem guten Teil unser Lebenswandel. Die TCM lehrt seit über zwei Jahrtausenden, was heute kein Wissenschaftler mehr bestreiten kann: die genetische Veranlagung ist bestimmend für unsere Gesundheit, aber oft im Zusammenspiel mit unserem Lebensstil, nicht im Alleingang.
In der Tat lässt die TCM-Theorie der vorgeburtlichen Essenz den Eltern durchaus einen Spielraum, um die Gesundheit der eigenen Nachkommen zu verbessern. Unsere Konstitution hängt nicht nur von zufällig zusammengewürfelten Genen ab, sondern ganz entscheidend von der Lebenspflege unserer Eltern sowie unserer Vorfahren. Es gehört nach der traditionellen chinesischen Auffassung zur Verantwortung werdender Eltern, alles in der eigenen Macht Stehende zu tun, um den Nachkommen die bestmögliche vorgeburtliche Essenz weiterzugeben. Dafür werden sich gewissenhafte Paare sogar über mehrere Jahre hinweg vorbereiten. Die konfuzianische Tugend der kindlichen Pietät fordert im Austausch dafür von den Kindern, den Körper, die Gesundheit und die Essenz, welche sie von den Eltern erhalten haben, in Ehren zu halten und darauf zu achten, wie auf ein wertvolles Erbstück.
Die Erziehung des Fötus
Die vorgeburtliche Essenz eines Neugeborenen hängt neben der Essenz der Eltern auch von deren Alter und der gesundheitlichen Verfassung zum Zeitpunkt der Zeugung ab. Außerdem bleibt die Essenz des ungeborenen Kindes während der gesamten Dauer der Schwangerschaft noch beeinflussbar durch die körperliche und seelische Verfassung der Mutter. Erst mit dem Moment der Geburt wird die vorgeburtliche Essenz definitiv festgelegt. Die Geburt stellt für das Neugeborene den Übergang dar zwischen dem Vor-Himmel, xiantian 先天, und dem Nach-Himmel, houtian 后天. Ab diesem Moment verfestigt sich die vorgeburtliche Essenz sozusagen und bildet fortan das Fundament, die Basis für die weitere Entwicklung. Die Einflüsse während der Zeugung und der Schwangerschaft sind also nicht nur für die momentane Gesundheit des Ungeborenen bestimmend, sondern sie schreiben sich in das Fundament der Gesundheit ein und werfen dadurch Licht oder Schatten voraus auf das gesamte weitere Leben.
Besonders wichtig ist natürlich die Gesundheit der Mutter, im Besonderen während der gesamten Schwangerschaft. Für diese Monate gibt es in der TCM die Tradition der Erziehung des Fötus, taijiao 胎教. Es handelt sich um eine Reihe von Unterweisungen die zurückgehen an die Anfänge der chinesischen Medizin. Sie sind in China bis heute weit verbreitet und werden von vielen werdenden Müttern befolgt. Die Bezeichnung “Erziehung” ist allerdings leicht irreführend, denn eigentlich handelt es sich dabei um Vorgaben zur Lebenspflege, die entweder direkt auf den Fötus einwirken oder auf dem Umweg über eine verbesserte körperliche und seelische Gesundheit der Mutter der Entwicklung des Ungeborenen zugute kommen sollen. Mit der Erziehung des Fötus vergleichbare Ratschläge kennen wir natürlich auch in anderen Kulturen. Der Unterschied besteht darin, dass hier nach den Prinzipien und Vorstellungen der TCM vorgegangen wird.
In der heutigen Zeit durchmischen sich die traditionellen Vorgaben auch in China zunehmend mit dem Versuch, die verborgenen Talente des sorgsam gehegten Nachwuchses schon lange vor dessen Einschulung zu optimieren. So wird versucht, die Musikalität des Ungeborenen mittels Beschallung durch klassische Musik zu fördern, oder seine zukünftigen Englischkenntnisse durch das Anhören von entsprechenden Tonaufnahmen. Auch im modernen China verlieren die Ratschläge zur Erziehung des Fötus also zunehmend den Bezug zur traditionellen chinesischen Medizin.
Emotionen, Ernährung und Bewegung
Wir können in der Erziehung des Fötus direkte und indirekte Maßnahmen unterscheiden. Bei den direkten Maßnahmen geht es zum Beispiel darum, durch angenehme Musik, Massage oder das Hören von bekannten Stimmen unmittelbar auf das Ungeborene einzuwirken mit dem Ziel, dessen Wohlbefinden zu steigern. Indirekte Maßnahmen nehmen den Umweg über die Mutter, die ja während der gesamten Schwangerschaft in einer Symbiose mit dem Ungeborenen lebt. Interessant ist hierbei, dass in der Tradition der TCM für die ersten Monate der Schwangerschaft eine besondere Betonung auf die Vermeidung von emotionalem Stress gelegt wird, während in den letzten Monaten die Ernährung und die körperliche Bewegung stärker in den Mittelpunkt geraten.
Was die Emotionen betrifft, beschreibt die TCM als das Ideal einen Zustand von freudiger und zuversichtlicher Gelassenheit. Natürlich meint die TCM mit diesem idealen geistigen Zustand nicht das vollkommene Fehlen aller anderen Emotionen. Möglichst vermieden werden sollen vor allem sehr starke emotionale Zustände, insbesondere unangenehme oder erschreckende Eindrücke und Erfahrungen. Emotionen haben immer einen direkten Einfluss auf das Qi der Mutter, und dadurch indirekt auch auf die Zirkulation von Qi und Blut beim Kind. Jede übermäßige oder zu lange anhaltende Emotion kann daher sowohl bei der Mutter als auch beim Kind zu einem energetischen Ungleichgewicht führen. Also lieber Schnulzenfilme schauen und keine Thriller.
In der zweiten Hälfte der Schwangerschaft rückt die Ernährung stärker in den Fokus. Heute wissen wir um die besondere Rolle einzelner Nährstoffe für die Entwicklung des Fötus, so von Folsäure, Vitamin B12, Jod und Omega-3-Fettsäuren. Aus der ganzheitlichen Sicht der TCM geht es dagegen vor allem darum, ganz allgemein Qi, Blut und Körperflüssigkeiten der Mutter über die Ernährung ausreichend zu stärken und zu nähren, denn diese Ressourcen der Mutter stehen auch dem Ungeborenen zur Verfügung. Speisen, die während der Schwangerschaft vermieden werden sollen, sind solche, die Hitze erzeugen oder das Blut sehr stark bewegen. Bei stark erhitzenden Nahrungsmitteln denken wir sofort an Kaffee, Tabak und Alkohol, dann aber auch an gegrilltes rotes Fleisch, geräucherte oder gereifte Wurstwaren oder Gewürze. Vor den Gewürzen wird auch dann gewarnt, wenn sie das Blut bewegen, wie dies zum Beispiel bei Kurkuma, Zimt und Safran der Fall ist. Vielleicht können wir die Ratschläge folgendermaßen zusammenfassen: sorge für eine vielfältige und vor allem sehr nährstoffreiche Ernährung, vermeide möglichst alle Alltagsgifte (Koffein, Alkohol und Nikotin) und reduziere prinzipiell Nahrungsmittel mit einer sehr starken energetischen Wirkung, also z.B. Gewürze, Küchenkräuter und Essig.
Was die körperliche Bewegung betrifft, warnt Sun Simiao, ein berühmter chinesischer Arzt aus dem 7. Jahrhundert n.Chr., während der ersten Monate zwar vor jeder Überanstrengung, rät in den letzten Monaten aber ausdrücklich zu mehr körperlicher Aktivität, mit dem Ziel, Qi und Blut in Bewegung zu halten. Körperliche (oder anderweitige) Überanstrengung zu vermeiden und dennoch maßvolle körperliche Bewegung beizubehalten, das entspricht dem Maß der Mitte, an dem sich die TCM prinzipiell orientiert. Studien belegen in der Tat die positive Wirkung von leichter körperlicher Aktivität während der gesamten Schwangerschaft auf die Gesundheit von Mutter und Kind und lassen Zweifel aufkommen am Sinn der strikten Bettruhe, wie sie bei drohenden Fehlgeburten verschrieben wurde.
Gegängelte oder selbstbewusste Mütter
All diese Vorgaben sind sehr oft sinnvoll und durch Studien belegbar. Dennoch finden sich immer wieder auch Vorschriften, die eher an Gängeleien gegenüber den werdenden Müttern denken lassen. So die Forderung aus dem antiken China, dass Schwangere immer aufrecht sitzen sollen und nur Dinge essen dürfen, die regelmäßige Formen aufweisen. Allerdings können auch vernünftige Ratschläge dazu führen, dass eine Frau sich in der besonderen Situation einer Schwangerschaft unter Druck gesetzt fühlt. Wird dieser Druck zu groß, so kann er zu einer Ursache für Unsicherheit oder Ängste werden. Deshalb sollten alle Beteiligten und vor allem die Schwangeren selbst niemals das primäre Ziel aus den Augen verlieren: Gesundheit und Wohlbefinden der Mutter in einem ganzheitlichen Sinne zu verbessern, um so indirekt auch dem Kind zu nutzen.
Die Schwangerschaft, die Geburt und die Zeit danach ist für Frauen sehr oft eine Zeit, in der ihre individuellen Freiheiten und ihre Selbstbestimmung in Frage gestellt werden, nicht zuletzt auch durch die eigenen Erwartungen. Denn selbst wenn niemand sich herausnimmt, irgendwelche Ratschläge zu geben, kann ein großer innerer Druck schon allein durch das Bewusstsein der eigenen Verantwortung entstehen. Zu wissen, dass das eigene Handeln direkt über Gesundheit und Leben eines geliebten Menschen entscheidet, legt einem natürlich eine große Last auf. Deshalb ist für alle werdenden Eltern eine der wichtigsten Lektionen, dass es keine perfekten Eltern und keine perfekten Kinder gibt. Dieser Lernprozess beginnt schon während der Schwangerschaft, denn es gibt auch keine perfekte Schwangerschaft. So gut wir es auch meinen, es läuft bestimmt nicht immer alles glatt.
Es geht während Schwangerschaft und Stillzeit durchaus nicht nur um die Gesundheit des Ungeborenen, sondern auch um die Mutter. So wird die Natur bei einem Mangel an Nährstoffen sehr oft auf die Reserven der Frau zurückgreifen. Dann entwickelt sich das Baby zu einem rosigen Wonneproppen, während die schwangere oder stillende Mutter zunehmend blass, schwach und kränklich wird. Außerdem stellen Schwangerschaft und Geburt für die Gesundheit einer Frau einen kritischen Übergang dar, in dem die gesundheitlichen Weichen so ähnlich wie während Pubertät und Wechseljahren neu gestellt werden können. Das innere Gleichgewicht wird während diesen kritischen Phasen ein Stück weit neu aufgestellt, kann sich entweder verbessern oder verschlechtern.
Die Schwangerschaft ist eine Zeit, in der eine Frau ihre eigenen Bedürfnisse in Bezug auf Gesundheit und Wohlbefinden sehr viel bewusster wahrnimmt und sie auch klar einfordern sollte. Die Erfahrung, dass sie für das Wohlergehen ihrer Kinder unmittelbar verantwortlich ist und dass der Weg dorthin nur über ihre eigene Gesundheit führen kann, führt oft zu einer größeren Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Gesundheit. Und ich glaube, dass letztlich das stärkere Gesundheitsbewusstsein von Frauen und ihre wohl dadurch bedingte längere Lebenserwartung zu einem guten Teil auf diese Erfahrung zurückzuführen sind.
Die nachgeburtliche Essenz
Mit dem Moment der Geburt wird die vorgeburtliche Essenz sozusagen abgeschlossen. Für den Rest des Lebens können wir diese Essenz nicht mehr mehren oder grundlegend verändern. Der natürliche Lauf der Dinge ist es, dass die vorgeburtliche Essenz während des Lebens langsam abnimmt, was vor allem während des Alterungsprozesses spürbar wird. Wenn wir verbrauchte Essenz ersetzen könnten, wären wir unsterblich. Was wir können ist allerdings, den Alterungsprozess durch einen gesunden Lebenswandel zu verlangsamen. Diese leicht zu beobachtende Tatsache spiegelt sich in der TCM in der Theorie der nachgeburtlichen Essenz wider. Die nachgeburtliche Essenz wird immer dann gebildet, wenn der Organismus einen Überschuss an Qi produzieren kann. Das ist normalerweise bei relativ jungen und gesunden Menschen der Fall, die sich zudem gut ernähren und sich nicht überanstrengen, also auch nicht allzu viel Qi verbrauchen. Auch wenn die Geburt in Bezug auf Essenz und Konstitution eine starke Zäsur darstellt, geht die Lebenspflege nach der Geburt natürlich weiter. Wir starten ins Leben mit einem mehr oder weniger gut gefüllten Bankkonto. Mindestens ebenso entscheidend aber ist unser Businessplan fürs Leben.