Kenner der chinesischen Ernährungslehre werden an der Wahl der Kastanie zum Thema dieser Zeilen erkennen, dass wir uns bereits auf den Winter einstellen. Tatsächlich ist die Kastanie (in Chinesisch lizi 栗子 genannt) in der kalten Jahreszeit ein sehr wertvolles Nahrungsmittel. Das hängt nicht so sehr mit ihrer wärmenden Natur zusammen (sie wärmt zwar, aber lang nicht so stark wie andere Nahrungsmittel), sondern mit ihrer Fähigkeit, den Funktionskreis Niere zu stärken.
Der Winter ist die Jahreszeit, in der der Funktionskreis Niere am meisten gefordert wird. Während der kalten Monate zieht der Organismus seine Kräfte ins Körperinnere zurück, ganz ähnlich wie die Pflanzen das tun oder Tiere im Winterschlaf. Das Qi während der kalten Monate ins Körperzentrum zu holen und es dort zu speichern sind zwei Funktionen, die in der TCM dem Funktionskreis Niere unterstehen. Ist der Funktionskreis Niere stark genug und setzen wir uns ausreichend der kalten Witterung aus, so ist diese Art der Zentrierung die natürliche, spontane Reaktion des Körpers und gleichzeitig die beste Methode, um die Niere zu stärken. Ist die Niere schwach, so sind die Wintermonate also die beste Zeit, um sie zu unterstützen. Dies kann die Kastanie; sie ist ein ausgezeichnetes Tonikum für das Qi und das Yang der Niere und wie alle guten Nieren-Tonika nimmt sie auch das Nieren-Yin ein Stück weit mit, ja sie gilt sogar als ein Tonikum der Nieren-Essenz, reicht also wirklich bis an die Wurzeln heran.
Die Nieren-tonisierende Wirkung der Kastanie wird in den Worten der TCM als ein Kräftigen von Muskeln, Sehnen und Knochen beschrieben. Die Kastanie wirkt dabei nicht auf den Bewegungsapparat des gesamten Körpers, sondern ganz besonders auf zwei Zonen, die eng mit dem Funktionskreis Niere zusammenhängen: den unteren Rücken und die Knie. Wie der gesamte untere Körperbereich (also auch der Unterbauch mit allen unterhalb des Nabels liegenden inneren Organen, die Geschlechtsorgane, die Beine und die Füße) hängen diese Körperzonen direkt vom Funktionskreis Niere ab. Ist der Funktionskreis Niere stark, so ist die gesamte untere Körperhälfte gut mit Qi und Blut versorgt, also warm, stark und aktiv. Ist die Niere hingegen schwach, so wird die untere Körperhälfte schlecht versorgt, sie ist schwach und kalt, die Organe arbeiten unzureichend, die Knochen, Gelenke, Sehnen und Muskeln sind steif, brüchig oder schmerzhaft. Insbesondere an Lendenwirbelsäule, Hüften und Knie zeigt sich eine Schwäche der Niere, man könnte sogar sagen, dass praktisch jede Nierenschwäche sich in Problemen in dieser Körperregion niederschlägt. Bei einem Yang-Mangel der Niere werden Schwäche und Schmerzen begleitet von Kältegefühl, bei einem Yin –Mangel finden sich häufiger Gelenksprobleme oder Ostheoporose.
Die Kastanie nun hat in der Tradition der TCM die Fähigkeit, eine solche Schwäche auszugleichen, insbesondere dann, wenn das Yang der Niere davon betroffen ist. Konkret wird die Kastanie vor allem bei Kleinkindern und älteren Menschen eingesetzt. Bei Kindern dann, wenn sie auf Grund einer meist konstitutionellen Schwäche der Niere wenig Kraft in den Beinen haben und deshalb erst spät gehen lernen oder beim Gehen sehr schnell ermüden. Sehr oft findet man bei einer solchen Schwäche auch eine Tendenz zu X- oder O-Beinen oder zu einem Hohlkreuz. Bei älteren Menschen dann lässt die Kraft des Funktionskreises Niere nach, die Gelenke werden steif und schmerzhaft und das Gehen anstrengend. Nächtliches Wasserlassen, Harninkontinenz, lose Zähne und ein Nachlassen des Gedächtnisses sind weitere Zeichen einer schwachen Niere, bei denen traditionell die Kastanie eingesetzt werden kann.
Neben dem Funktionskreis Niere tonisiert die Kastanie auch die Milz. Hier ist sie zur Stärkung der Verdauung nützlich, besonders bei Durchfall auf Grund eines Qi- und Yang-Mangels von Milz und Niere, also einer „kalten“ Verdauung. Dabei verbessert die Kastanie die Darmflora und bremst Gärungsprozesse im Darm, aus westlicher Sicht nicht zuletzt durch ihre entsäuernde Wirkung. Bei all diesen Einsatzgebieten ist es jedoch sehr wichtig, es mit der Menge nicht zu übertreiben und die Kastanien gut zu kauen, da diese relativ schwer verdaulich sind. Für einen erwachsenen Menschen sind 8 bis 10 Kastanien täglich die Obergrenze, bei Kleinkindern genügen auch 2-3 Kastanien schon. Im Übermaß genossen führen sie zur Stagnation von Qi im mittleren Erwärmer und dadurch zu Blähungen und Nahrungsstau. Insbesondere gilt dies natürlich für rohe Kastanien, die in der chinesischen Tradition zwar zur Stärkung von Lendenwirbelsäule und Knien empfohlen werden, aber eben nur falls die Verdauung klappt.
Kastanien sind sehr nahrhaft und bringen relativ viele Kalorien mit, weshalb sie bei Übergewicht vielleicht nicht so ganz das Richtige sind. Gleichzeitig sind sie besonders reich an Mineralen und Spurenelementen. Deshalb gilt diese Frucht in der TCM als ein gutes Mittel bei Schwäche, Müdigkeit, Untergewicht oder nach einer langen und auszehrenden Erkrankung. Als gutes Blut-Tonikum sind die Kastanien auch während dem Stillen und bei Anämie nützlich. Und eine weitere Wirkung auf das Blut ist noch zu vermerken: die Kastanie bewegt das Blut dort, wo es ins Stocken geraten ist. Dieser Wirkung verdankt sie die Empfehlung bei Blut-Stase-Syndromen (wie verschiedenen Störungen der Menstruation) und bei Blutungen, welche durch eine Blut-Stase bedingt sind, zum Beispiel Hämorrhoiden, Blutungen aus Nase oder Mund, aber auch äußerlich bei einer Quetschung oder Prellung.
In der Küche sind die köstlichen Kastanien immer etwas Besonderes, aber oft auch ziemlich aufwändig in der Zubereitung. Am leichtesten ist es meiner Meinung nach, sie zu rösten oder zu braten. Dabei wird erst die feste Schale auf der gewölbten Seite quer eingeritzt, danach kommen die Kastanien bei 200 Grad in den Ofen oder in einer gelöcherten Pfanne direkt über ein offenes Feuer. Anschließend gibt man die heißen Kastanien in eine mit einem feuchten Tuch ausgelegte Schüssel und schlägt das Tuch über den Kastanien zusammen. Nach fünf Minuten werden die Kastanien dann noch warm geschält. In dieser Form können sie sehr gut eingefroren werden und stehen dann jeden Tag auch in kleineren Mengen zur Verfügung. Morgens landen sie zusammen mit einem Apfel in den gekochten Haferflocken, mittags und abends dann ergeben sie mit Linsen und Masala eine herrlich süß-scharfe Cremesuppe oder mit ungesüßtem Apfelmus püriert ein ebenso schlichtes wie leckeres Dessert. Weniger aufwändig in der Verwendung ist wohl das Kastanienmehl. Es kann in Broten oder Kuchen zu anderen Mehlsorten gemischt werden. Bei hartgesottenen Fans der Kastanie kommt es aber auch allein zum Einsatz, so zum Beispiel im castagnaccio, einem flachen Kuchen aus der Toscana, wo die Kastanie bis vor nicht allzu langer Zeit in harten Jahren noch als Grundnahrungsmittel herhalten musste.