Der saure Geschmack ist in der TCM der Wandlungsphase Holz und dem Funktionskreis Leber zugeordnet. Es gibt als eine Art Untergruppe zum sauren auch einen adstringierenden Geschmack, der in der Kräuterheilkunde der TCM eine Rolle spielt, in der Ernährung aber vernachlässigt werden kann. Dennoch wirken auch alle sauren Nahrungsmittel im weitesten Sinne adstringierend, was in der TCM vor allem bedeutet, dass sie Flüssigkeiten im Körper zurückhalten. Ist diese adstringierende Wirkung besonders stark ausgeprägt, so können die Nahrungsmittel eingesetzt werden, wenn ein übermäßiger Flüssigkeitsverlust verhindert werden soll. Adstringierende Nahrungsmittel und Heilkräuter wirken also bei Durchfall, Blutungen, übermäßigem Schwitzen, Inkontinenz und vorzeitiger Ejakulation oder Spermatorrhö (Samenfluss). Es gibt allerdings viele saure Nahrungsmittel, die keine ausreichend starke adstringierende Wirkung haben. So sind im Prinzip beinahe alle Obstsorten sauer, aber nur Brombeere, Heidelbeere, Granatapfel, Kaki und Zitrone wirken bei Durchfall auch wirklich stopfend. Andere saure Nahrungsmittel wie Essig oder Adzukibohnen können eingesetzt werden, um eine Blutung zu stillen. Die Umboshi-Pflaume, Meisterin im Adstringieren, hält beides zurück, Stuhl und Blut. Übertroffen wird sie noch von Schisandra, einer kleinen Beere, die mit ihrem sauren Geschmack bei Durchfall, Spermatorrhö und Nachtschweiß hilft, und ganz nebenbei durch das Adstringieren auch tonisierend wirkt. Es wird nicht allen adstringierend wirkenden Mitteln ein saurer Geschmack zugeordnet. Der Salbei zum Beispiel, der das Schwitzen eindämmt, hat zwar eine adstringierende Wirkung, aber nach der TCM keinen ausdrücklich sauren Geschmack. Reis und vor allem Klebreis helfen bei Durchfall, doch haben die Chinesen es wohl nicht übers Herz gebracht, sie deshalb als adstringierend oder sauer zu klassifizieren.
Weil der saure Geschmack starkes Schwitzen verhindert, ist er in allen Situationen störend, in denen das Schwitzen wichtig ist. An einem sehr heißen Sommertag zum Beispiel kann der Körper sich durch das Schwitzen am besten abkühlen. Es sollte dann also erst abends etwas Saures getrunken werden, während der größten Hitze sind leicht schweißtreibende Getränke wie ein Holunderblütensaft oder ein Minztee besser geeignet. Auch am Beginn einer Erkältung, wenn der durch die Poren der Haut eingedrungene Störfaktor durch Schwitzen wieder zurück nach draußen gedrängt werden kann, braucht es scharfe, schweißtreibende Nahrungsmittel wie Ingwer, Frühlingszwiebel oder Schafgarbentee, aber ja nichts Saures, denn das würde den eingedrungenen Wind im Körperinneren einschließen.
Ist die adstringierende Wirkung bei den meisten anderen sauren Nahrungsmitteln auch nicht sehr stark, so kann sie doch dabei behilflich sein, den Körper bei Trockenheit und Substanzmangel zu nähren, zu befeuchten und Durst zu stillen. Auffallend sind in diesem Zusammenhang die Gelüste von Schwangeren, die sich sehr häufig auf saure Speisen richten. Schließlich muss in den mittleren Schwangerschaftsmonaten in kürzester Zeit sehr viel Substanz angesammelt werden, und der saure Geschmack ist dabei behilflich. Die beste Kombination überhaupt, um Durst zu stillen, zu befeuchten und Substanz aufzubauen ist die von saurem und süßem Geschmack. Der süße Geschmack unterstützt bei der Bildung von Körperflüssigkeiten, der saure hilft dabei, sie im Körper zu halten. Bei süß-sauer denken wir natürlich an Obst, denn praktisch alle Obstsorten passen in dieses Schema und außerdem – eigentlich untypisch für ein Gemüse – die Tomate. In der TCM verwendet man also bei Trockenheit, Blut- und Yin-Mangel gerne Obst und hochwertige Fruchtsäfte. Außerdem kann man mit etwas Obst, Zitronensaft oder anderen sauren Zutaten in Speisen und Getränken den Körper beim Ansammeln von Flüssigkeit und Substanz unterstützen.
Was für die einen ein Segen, ist für die anderen ein Fluch. Sammeln sich zu viele Flüssigkeiten und Substanz im Körper an, so schafft das Qi es irgendwann nicht mehr, all diese ausreichend zu transformieren und zu transportieren. Dann werden die Flüssigkeiten „trüb“ und bleiben liegen und es entsteht das, was die TCM „Feuchtigkeit“ nennt, ein Störfaktor und Ursache vieler gesundheitlicher Probleme. Feuchtigkeit zeigt sich zum Beispiel in Ödemen (Wassereinlagerungen im Gewebe), in weichen Stühlen oder chronischem Durchfall, in starker Verschleimung der Atemwege oder in einer Tendenz zu Übergewicht. Es versteht sich von selbst, dass der saure Geschmack bei Feuchtigkeit eine negative Wirkung hat, denn er verstärkt die Tendenz, Flüssigkeiten und Substanz im Körper anzusammeln. Besonders schlimm sieht es auch in diesem Fall bei süß-sauren Speisen und Getränken aus, nur bewegen wir uns diesmal im Bereich der minderwertigen oder (meist durch den enthaltenen Zucker) problematischen Nahrungsmittel: billige Fruchtsäfte, soft drinks, Fruchtjoghurt, Fruchteis oder Marmeladen.
Noch eine weitere Wirkung haben saure Nahrungsmittel, und auch diese hängt mit einem relativ starken, adstringierenden Geschmack zusammen: sie ziehen zusammen und straffen so das Gewebe, erhöhen den Muskeltonus, festigen Sehnen und Bänder. Dieses Zusammenziehen lässt sich gut nachvollziehen, wenn man in eine Zitrone beißt. Besonders wertvoll ist diese Wirkung bei schlaffem, nachgebendem Gewebe. Vor allem wenn „das Milz-Qi nicht fest ist“, wie es in der TCM heißt, es also zu einem übermäßigen Absinken und Nachlassen von Geweben, zu Hämorrhoiden, Krampfadern oder sogar zum Prolaps einzelner Organe kommt, werden adstringierende Nahrungsmittel eingesetzt, wie zum Beispiel Heidelbeere, Brombeere, Himbeere, Umeboshi-Pflaume, Granatapfel oder Quitten. Auch Blätter und unreife Früchte von Himbeere und Brombeere werden in der TCM für ihre stark adstringierende Wirkung geschätzt und können als Tee eingenommen werden. Darin liegt übrigens auch der Sinn, wenn man in den letzten Schwangerschaftswochen Himmbeerblättertee trinkt: die zusammenziehende Wirkung verhilft der stark gedehnten Gebärmuttermuskulatur zu Festigkeit und Tonus, die es für effektive Geburtswehen braucht. Ein weiteres sehr bekanntes Hausmittel hat mit der Wirkung des Sauren zu tun. Oft kann man einen sich anbahnenden Kopfschmerz dadurch abwenden, dass man einen ungesüßten Kaffee mit etwas Zitronensaft trinkt. In der TCM erklärt sich das so: der bittere Kaffee lenkt das aufsteigende Leber-Yang nach unten, die saure Zitrone unterstützt dies durch das Zusammenziehen und lenkt die Wirkung außerdem zum Funktionskreis Leber. Steigt das Leber-Yang auf, so ist der saure Geschmack also nützlich, bei einem stagnierenden Leber-Qi aber sollte man damit sehr vorsichtig sein. Bei diesem Muster ist der Muskeltonus oft sehr hoch, es kommt häufig zu Verspannungen, Sehnen und Bänder sind steif und die Bewegungen wirken abgehackt. All dies kann durch ein Übermaß an sauren Nahrungsmitteln verstärkt werden. Auch die periphere Durchblutung, die bei einer Leber-Qi-Stagnation oft schlecht funktioniert, profitiert davon, wenn man statt sauren mehr scharfe Speisen und Getränke zu sich nimmt. Und was für Anspannung gilt, gilt auch für Schmerzen: beide können sich durch die Wirkungen des sauren Geschmacks verstärken, natürlich vor allem dann, wenn Schmerzen und Anspannung ursächlich miteinander zusammenhängen.